Das Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos. Foto: Anthi Pazianou/AFP/Picturedesk

Das Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos. Foto: Anthi Pazianou/AFP/Picturedesk

Unschärfe mag keine Lüge sein, aber ...
Unschärfe mag keine Lüge sein, aber ...
Das folgende Interview wurde in der Oktoberausgabe der Straßenzeitung 20er veröffentlicht und ist nach wie vor aktuell. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger unterzog die Asylzahlen von Sebastian Kurz einem Faktencheck. Im Interview mit 20er-Chefredakteurin Rebecca Sandbichler erklärt sie, woran die Flüchtlingsdebatte krankt.

Frau Kohlenberger, momentan sprechen wir viel über die Kinder von Moria. Vergessen wir dabei die Menschenrechte der anderen Menschen dort?

Ja, leider. Selbst jene Teile der Bevölkerung und der Politik, die sich zur Aufnahme von Geflüchteten aus Moria bekennen, wollen vorwiegend Kinder aufnehmen. Aber die Pandemie hat gezeigt, dass es noch andere vulnerable Gruppen gibt: etwa ältere Menschen oder Menschen mit Diabetes. Die können in der derzeitigen Situation ihr Insulin nicht kühlen. Ohne Behandlung werden sie noch anfälliger für Krankheiten – nicht nur Corona. Schon eine Durchfallerkrankung kann für immunschwache Menschen tödlich sein. Diese Graustufen der Solidarität, die momentan angewandt werden, halte ich nicht für sinnvoll.

Wie meinen Sie das?

Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit muss man im Kriegskontext oft anders bewerten. Männer flüchten auch deshalb oft zuerst, weil sie wehrpflichtig sind. Wenn wir von Solidarität reden: Ist diese teilbar und wollen wir wirklich zwischen Menschen abwägen?

Judith Kohlenberger. Foto: Christian Lendl

Im Zuge der Ungarnkrise hat das junge Österreich 1956 ungeteilte Solidarität bewiesen und 200.000 Menschen aufgenommen. Danach sei die Stimmung zum Teil gekippt, sagt die Forschung. Erinnert Sie das auch an 2015?

Es zeigt, wie schwierig die Migrationsdebatte ist. Einerseits hat man „den Flüchtling“ als Feindbild, das rassistisch motiviert ist. Gleichzeitig verfallen sogar wohlmeinende Helfende dem Opferdiskurs. Selbst in der Kommunikation der Bundesregierung taucht bei Frauen mit Flucht- und Migrationshintergrund meist das Bild der unterdrückten, schwachen Frau auf. Aus meiner Forschung weiß ich aber: Diese Frauen haben Ressourcen.

Die Hilfsbereitschaft von 1956 wird oft damit erklärt, dass damals Menschen aus einem uns nahen Kulturkreis kamen, deshalb habe alles gut funktioniert. Aber in Wahrheit findet man immer einen Grund, um Menschen „anders“ zu machen. Das gelang in unserer Geschichte leider sogar mit Menschen, die schon immer im Land waren. Das Problem ist weniger, dass Migranten von heute so fremd wären, sondern dass sie fremd gemacht werden.

Vermissen Sie die Fakten in der Debatte?

Man sollte vorsichtig sein, was man sich wünscht. Fakten und Emotionen sind oft nicht so sauber zu trennen. Denn auch mit vermeintlich neutralen Daten und Statistiken kann ich Emotionen erzeugen.

Inwiefern?

Indem ich etwa betone, wie viele hunderttausend Menschen Österreich bereits aufgenommen hätte und wie viele Zehntausende von ihnen arbeitslos wären. Wenn man diese Zahlen nicht einordnet, erzeugt man Angstgefühle bei Teilen der Bevölkerung. Die Frage ist, was ich mit Zahlen bezwecke. Zahlen sind nicht neutral, man muss sie in Kontext setzen.

Sie haben kürzlich Asylzahlen, die Sebastian Kurz in einem Interview genannt hat, einem Faktencheck unterzogen. Er sprach von 200.000 aufgenommenen Menschen seit 2015 – rund 119.000 haben laut Innenministerium tatsächlich seither Asyl erhalten. Auch andere kritische Stimmen haben das als Irreführung ausgelegt.

Man muss immer bedenken, wer das Zielpublikum ist. Ein Beispiel: In der Forschung verwende ich selbstverständlich den Überbegriff Migrant, weil das Wort Migration sowohl erzwungene Migration (vulgo Flucht) als auch Arbeitsmigration beinhaltet. Absurderweise wurde dieser wissenschaftlich korrekte Begriff aber politisch negativ aufgeladen. Würde ich die Menschen in Moria konsequent als Migranten bezeichnen, entstünde ein falsches Bild. Als der Bundeskanzler zuletzt von 200.000 aufgenommenen Menschen in Österreich sprach, war das statistisch richtig. Alle Asylwerber werden zunächst als Aufnahmen gezählt, selbst, wenn sie später abgeschoben werden. Was aber versteht die breite Öffentlichkeit unter „aufgenommen“? Vermutlich, dass diese Menschen permanent im Land bleiben dürfen und einen positiven Bescheid bekommen haben. Diese Unschärfe mag keine Lüge sein, aber sie suggeriert etwas, was die Statistik nicht hergibt.

Zahlen sind nicht neutral, man muss sie in Kontext setzen.

Sie kritisieren auch mangelnde Transparenz. Hat die Forschung nicht genug Zahlen?

Das ist ein großes Thema. Es gibt eine monatliche Asylstatistik vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), die aber nur grobe Auswertungen erlaubt. Zusätzliche Daten werden oft nur unvollständig weiter gegeben, aus Datenschutzgründen. Die Bundesregierung hat privilegierten Zugang und so ergibt sich eine Deutungshoheit. Der Faktencheck war zum Beispiel schwierig, weil das BKA die Zahlen bis August 2020 hatte, öffentlich waren sie aber nur bis Juli 2020 verfügbar.

Wo ist das noch ein Problem?

Nicht einmal das Innenministerium weiß, wie viele geflüchtete Menschen in Österreich leben. Nach einem positiven Bescheid darf man sich ja frei im Schengen-Raum bewegen. Das ist gut, macht es aber schwer, repräsentative Studien durchzuführen. Deutschland hat darum eine eigene, unabhängige Forschungsabteilung am Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) eingerichtet. Schon 2015 wurde dort eine repräsentative Längsschnittstudie aufgesetzt. Geflüchtete Menschen werden bei ihren Integrationsbemühungen und Bildungs- oder Berufserfolgen begleitet. So kann die Politik besser steuern oder einzelne Gruppen fördern. Das fehlt in Österreich.

Wird auf Integration zu wenig geschaut?

Nein, ich finde sogar, dass uns nach den jüngsten Fluchtbewegungen Einiges sehr gut gelungen ist. Wir haben eine globale Pandemie und trotzdem relativ erfreuliche Arbeitsmarktintegrationszahlen von Menschen, die erst wenige Jahre hier sind. Auch die Bildungserfolge der geflüchteten Kinder sind gut. Aber wir wussten früh, dass diese Menschen, die vor dem Syrienkrieg geflohen sind, recht bildungsaffin sind. Anders verhielt es sich bei der türkischen Gastarbeitergeneration, wo man bewusst geringqualifizierte Menschen angeworben hat. Der Bildungsaufstieg ist selbst für die zweite und dritte Generation schwer, was auch am früh trennenden Schulsystem liegt. Wenn wir heute ‚Migrationshintergrund‘ sagen, meinen wir also nicht den Kanadier, der bei der UN arbeitet. Wir meinen vielmehr die soziale Klasse. Viele Geflüchtete sind sozioökonomisch schlechter gestellt. Anstatt das zu thematisieren, schieben wir alle Problemlagen auf ethnische oder religiöse Aspekte. Aber der Islam hat recht wenig damit zu tun.

Wenn wir heute ‚Migrationshintergrund‘ sagen, meinen wir nicht den Kanadier, der bei der UN arbeitet.

Sie sagen: je strenger die Einwanderungspolitik, desto weniger sind Menschen bereit, ein Zielland wieder zu verlassen. Sind viele unserer Probleme auch hausgemacht?

Ein großer Faktor ist, dass es für viele Menschen kaum Möglichkeiten zur legalen Einreise gibt. Ein Ansatz wäre die sogenannte zirkuläre Migration. Viele Afrikaner haben formal keinen Asylgrund, obwohl die Bedingungen im Herkunftsland katastrophal sind. Sie kommen auf irregulärem Weg und werden das Zielland nicht freiwillig verlassen, weil sie dann nicht mehr reinkommen. Nach einem negativen Bescheid tauchen viele unter und gelangen auf illegale Arbeitsmärkte. Man könnte stattdessen Menschen ohne Asylgrund auch für einige Jahre für Studium oder Arbeit einreisen und Geld nach Hause schicken lassen – diese Überweisungen erzielen nachweisbar mehr Wirkung als Entwicklungszusammenarbeit. Nach der Rückkehr und einigen Jahren im Heimatland sollte es möglich sein, wieder einen Antrag zu stellen.

In der neuen Asylstrategie der EU ist davon nicht die Rede. Wird sich die Zusammenarbeit wenigstens bessern?

Ich fürchte nein. Wir haben ja zahlreiche bestehende Regelungen und Gesetze, die wir nur einhalten müssten. Etwa das EU-Türkeiabkommen. Da wird nur ein Teil umgesetzt, nämlich: Die Türkei erhält Geld von der EU, damit sie die Flüchtlinge dort behält. Der andere Teil des Abkommens, dass nämlich Geflüchtete, die es nach Griechenland schaffen und einen positiven Bescheid bekommen, in der EU verteilt werden, funktioniert nur schleppend. Zwischen Mitte 2016 und Ende 2017 wurden 20.000 Menschen auf die EU-Länder verteilt, kaum jemand wurde von Österreich aufgenommen. Was nun in Moria passiert, entbehrt jeder rechtlichen Grundlage nach dem Dublin-Verfahren. Das neue Lager, umgeben von Stacheldraht, sieht aus wie ein Gefängnis – und das scheint gewollt.

Eine Politik der Abschreckung?

Griechenland verfolgt diese Strategie schon jahrelang, aber wir wissen aus Statistiken, dass sie nicht wirkt. Es sind die kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien oder Afghanistan, die Menschen weiterhin zur Flucht zwingen. Und hier erhöhen wir nur den Druck.

Die Logik von pull (anziehen) und push (abstoßen) stimmt also nicht?

Ich kenne kaum Kolleginnen oder Kollegen, die noch mit diesem überholten Modell arbeiten. Die Gründe für Migration sind viel komplexer. Ein kluges Migrationsmanagement würde das berücksichtigen und könnte damit auch besser auf nationale Bedürfnisse eingehen.

Wer hat das?

Kanada wird oft als Beispiel genannt. Aber ob man selbst Flüchtlinge danach auswählen sollte, wie gut ihr Englisch ist, bleibt dahingestellt. Australien gilt als Negativbeispiel. Aber immerhin holt das Land über Resettlement-Programme jährlich rund 12.000 Menschen auf legalem und sicheren Weg ins Land. Wir haben das in Österreich zunehmend abgedreht und legale Fluchtwege gekappt. So werden Menschen eben weiterhin versuchen, im Kühltransporter zu uns zu kommen.

Credits
  • Autorin: Rebecca Sandbichler
  • Fotografie: Christian Lendl, Anthi Pazianou

Ein Posting

gewa
vor 3 Jahren

Danke für den profunden Beitrag. In den oben beschriebenen Tonarten spielen viele Politorchester und die derzeit Regierenden in Wien tun das sehr virtuos. Unsere christlich-abendländische Kultur macht "Gebetsstunde" im Parlament unter Stabführung des zweithöchsten Repräsentanten der Republik. Da muss man auch nicht immer wieder die Herbergsuche der Moria-Flüchtlinge unterm Teppich hervorholen, schon gar nicht dürfen wir uns die süße Krippenkultur vermiesen lassen. Die Kleinen in Moria können uns ja nicht "mit ihren leuchtenden Kinderaugen im Kerzenschimmer" ihren Dank sagen.

 
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