"Rache bringt nichts"
"Rache bringt nichts"
Der Kinderarzt und Primar Nerses Arakelian ist seit 13 Jahren in Pension und intensiv beschäftigt - als Arzt und Armenier.

Er bestellt einen Kakao ohne Schlag und lächelt, als das süße Getränk serviert wird. Dann lässt er es kalt werden – zu intensiv wird das Gespräch, das er mit dem Satz einleitet: „Meine Geschichte ist ein wenig kompliziert.“ Etwas Anderes würde man bei einem Armenier nicht vermuten. Das Trauma des Genozids an den Armeniern, bei dem alleine in den Jahren 1915 und 1916 um die 1,5 Millionen Menschen umgekommen sind – und es war nicht der erste systematische Auslöschungsversuch – hat bis heute Folgen. Familien wurden auseinandergerissen, mehrere Millionen Armenier leben in der sogenannten Diaspora und die Anerkennung des Völkermordes durch die Türken – oder vielmehr die Nicht-Anerkennung – belastet die internationalen Beziehungen seit Jahrzehnten.

„Ich feiere zwei Geburtstage.“

Im Falle von Nerses Arakelian kommt einiges hinzu, was seine Geschichte nicht gerade einfacher erscheinen lässt. Verschmitzt lächelnd sagt er: „Ich feiere zwei Geburtstage.“ Er holt aus, um die Hintergründe zu erklären, immer wieder unterbricht er sich selbst und lacht dieses für ihn typische Lachen, das von einem Ohr zum anderen reicht.

Zur Zeit seiner Geburt arbeitete sein Vater als Veterinär für die Briten in Jaffa. Dessen Schwester war in Aleppo (Syrien) Hebamme und da der Vater niemand anderem die Geburt seiner Kinder anvertrauen wollte, führte er seine insgesamt sieben Mal schwangere Frau jeweils zum Entbinden nach Aleppo. Zurück in Jaffa meldete er die Kinder bei der Behörde an. Im Falle seines Sohnes Nerses vergaß er das und als das Versehen nach 18 Monaten auffiel, erinnerte er sich vor Schreck nicht mehr an den richtigen Geburtstag seines Sohnes (14. April 1934) und gab stattdessen den 29. Dezember 1935 an.

Offiziell ist Nerses Arakelian somit 18 Monate jünger, als er ist. Er findet das eher komisch und sagt, er feiere halt zweimal pro Jahr. Tatsächlich aber passt es in die Komplexität seines Lebens, denn hinzu kommt, kurz gefasst: Er ist Armenier, geboren in Syrien, aufgewachsen in Jordanien (Jaffa gehörte damals noch zu Jordanien), später in Bethlehem (heute Palästina) und Jerusalem (heute Israel), ein Christ, in der Schule katholisch erzogen aber eigentlich armenisch-apostolisch. Nicht gerade einfach – schon gar nicht für Tirol, wohin es ihn durch die Liebe im Jahr 1962 verschlug.

„So ein Mischmasch.“

Seine spätere Frau Lotte hatte er während des Studiums in Wien kennengelernt, und da ihr Vater Primar in Lienz war, bestand dieser darauf, dass der Schwiegersohn den Turnus hier mache. Die Tiroler verweigerten ihm nach Jahren die Staatsbürgerschaft, so beendete er den Turnus in Klagenfurt, wo er schon nach drei Monaten zum Österreicher gemacht wurde. Spätere Stationen waren Innsbruck und Kirchdorf an der Krems, doch es zog ihn wegen seiner Familie immer wieder nach Lienz.

Er mag die Stadt bis heute, sagt er, auch wenn er manchmal weg muss, wenn es ihm zu eng erscheint. Er wurde bereits für einen Araber gehalten und für einen Juden. Es musste erst ein Erdbeben in Armenien geben, um verständlicher zu machen, wer die Armenier sind – und in seinem Fall war auch das ein Irrtum, da er zu den Westarmeniern gehört, nicht zu den Ostarmeniern der ehemaligen Sowjetunion: „Ich habe Armenien nicht einmal gekannt, war nie dort. Wir sind ursprünglich aus Kilikien, mein Vater hat mit uns türkisch gesprochen, meine Mutter war armenisch-sprachig.“ Dann lacht er wieder und murmelt: „So ein Mischmasch.“

Oder ein typisch armenisches Schicksal, bis heute? Er verweist auf die vielen – auch armenischen – Flüchtlinge aus Syrien. Die armenische Gemeinde, deren Präsident er einige Jahre war, ist in den letzten Jahren stark gewachsen. Resignierend stellt er fest: „Sie müssen wieder flüchten. Das ist unser Schicksal. Es tut mir so weh. Das ist die dritte, vierte Generation und sie migrieren wieder vor den Muselmanen.“ Sein Bild der Türken oder Moslems ist deutlich geprägt von der Familiengeschichte, und doch verweist er immer wieder auf einen Satz seines früh verstorbenen Vaters: „Rache bringt nichts, überhaupt nichts.“ Das Ausmaß dieser Worte wird erst deutlich, wenn man begreift, dass sie von einem Armenier jener Generation kamen, die hilflos die Ermordung ihrer Familien mitansehen musste. Der Sohn trägt die Botschaft weiter. Es macht ihn traurig, dass die Türken den Genozid noch immer nicht anerkennen, doch seine Energie steckt er lieber in die Hilfe für Armenien: „Ich bin kein Mörder, bin nicht der Typ dafür. Ich bin Mediziner mit einem weißen Mantel.“

Familienfotos sind eine Seltenheit, denn im Laufe komplizierter Lebenswege ist viel verloren gegangen. Umso kostbarer sind die Erinnerungen.

Nach dem Erdbeben ist er erstmals nach Armenien gefahren. Auf Anregung des damaligen Sozialministers Josef Hesoun war er maßgeblich am Aufbau eines Krankenhauses in Gjumri beteiligt. Er sagt, dass dies ohne die hilfsbereiten Osttiroler nie möglich gewesen wäre und nennt einige Namen, allen voran den seines Freundes Raimund Mühlmann, der einen Großteil der damals 1,6 Millionen Schilling gesammelt habe.

Ob er nie in Erwägung gezogen hätte, nach Armenien zu übersiedeln? „Nie. Obwohl mir die Regierung einen hohen Posten im Parlament angeboten hatte. Das habe ich abgelehnt. Ich verstehe die Mentalität nicht. Ich habe sprachliche Schwierigkeiten und ich hatte ja auch die Familie hier.“ Bis heute fährt er zweimal pro Jahr hin, oft nimmt er hilfsbereite Kollegen aus Österreich mit. Gemeinsam operieren sie Akutfälle und besonders schwer erkrankte Kinder und unterrichten die dortigen Teams. Er freut sich, wenn es heißt „der Arakelian ist wieder da“ und daraufhin die Mütter mit den Kindern herbeieilen. Dann schüttelt er den Kopf: „Deshalb habe ich nie Zeit, dort Urlaub zu machen. Aber einmal möchte ich hinfahren, ohne jemandem etwas zu sagen.“ Dann lachen wir beide, denn wir wissen, dass er das nie tun wird: Urlaub machen. Dazu ist er ein zu großer Idealist und zudem das Opfer seiner armenischen Familiengeschichte.

Er kann nicht ruhen, er kann die Dinge nicht so lassen, wie sie sind. Der Schmerz bleibt Belastung – für ihn und für jene, die ihn eigentlich lieben, es aber auch nicht immer einfach haben, ihn auf seinem Lebensweg zu begleiten. Er erzählt wenig, schluckt seinen vererbten Schmerz hinunter. Manchmal bittet er, etwas nicht zu veröffentlichen, denn zu dramatisch ist die Geschichte und er meint, es würde nichts bringen, sie zu erzählen. Keine Rache, keine Worte verlieren. Die Anerkennung des Genozids aber ist ihm wichtig und für diese Anerkennung durch Österreich im April 2015 ist er stolz auf dieses Land.

Credits
  • Autorin: Daniela Ingruber
  • Fotografie: EXPA/Hans Groder

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