Das bedrohte
Paradies
Das bedrohte Paradies
Die Galerie im Westtrakt des Museums Schloss Bruck in Lienz zeigte bis 26. Oktober 2015 einzigartige Werke aus der Frühzeit des Mediums Fotografie. Kunsthistorikerin Eleonora Bliem-Scolari stellt den Fotografen vor: Heinrich Kühn.

Jeder Zeit ihre innovativen Bestrebungen und jeder Zeit ihre Menschen, deren herausfordernde Wissbegier und impulsiver Entdeckergeist für Generationen danach jene Basis vorexerzieren, damit später, also heute, Rezeptionsgeschichte geschrieben werden kann. Mit dem Terminus Kunstfotografie setzt sich ein Großteil der Menschen nur insofern auseinander, als man das Kompositorische einer fotografischen Darstellung als solche erkennt und sie dem Schnappschuss voranstellt.

Die Aussagekraft eines Motivs variiert nicht vorrangig durch das Format oder die Qualität seines Trägermaterials, wie Papier, Metall oder als Durchlichtbild auf Glas – für die Wahrnehmung entscheidend sind in erster Linie Farbwerte, Grauabstufungen, Kontrastverhältnisse und Schärferelationen. Unbestritten ist auch, dass es seit den Anfängen der Fotografie im frühen 19. Jahrhundert. im diskursiven Ermessen der Betrachter liegt, eine Fotografie als Kunstwerk zu verstehen. Nun, die prinzipielle Entwicklungsgeschichte der Farbfotografie kann heute nicht ohne die visionär künstlerisch und technisch interpretativen Erkenntnisse Heinrich Kühns (1866 Dresden – 1944 Birgitz/Tirol) gesehen werden, der sich selbst in älteren Jahren als Fototechniker bzw. Fotochemiker sah.

„Mary Warner“, Autochrome, 1908.
Foto: © Estate of Heinrich Kühn

Als einziger Sohn eines wohlhabenden Dresdner Großkaufmanns geboren, studierte er Medizin u.a. in Berlin und Innsbruck und legte bereits während der Praktikumszeit seine größte Aufmerksamkeit auf mikrofotografische Arbeiten in diversen Labors. Jedenfalls befasste sich Heinrich Kühn in den 1890er-Jahren uneingeschränkt mit dem Medium Fotografie und war höchst daran interessiert, fototechnisch erweiterbare Möglichkeiten zu entwickeln, um schließlich seinen künstlerischen Intentionen entsprechen zu können. Es sind für uns heute zwei bedeutende Errungenschaften, die seine Wertigkeit technisch und kunsthistorisch so hoch ansetzen lässt. Kühn war fasziniert von den Gummidrucken des französischen Amateur-Fotografen Robert Demachy und entwickelte selbst 1895 gemeinsam mit Hans Watzek und Hugo Henneberg vom Camera-Club Wien den dreifärbigen Gummidruck. Die Präsentation der grafikähnlichen Edeldrucke im Tafelbildformat auf der „Internationalen Ausstellung für Amateur-Photografie“ 1896 in Berlin sollte ihn berühmt machen.

Neben seinem Erfindungs- und Patentreichtum für fototechnisches Zubehör, zählt seine fotografische „Bildnerei“ definitiv zu den Pionierleistungen des Genres Kunstfotografie.

Es waren seine Freundschaften zu den internationalen Größen der Kunst- und Genrefotografie, Alfred Stieglitz, Frank Eugene und Edward Steichen, mit denen er als Teil des „Fin de Siècle“ im gleichgesinnten Austausch stand und experimentierte.

„Wartende Frauen am Strand von Katwijk“, nach einem Original-Negativ, um 1900.
Foto: © Estate of Heinrich Kühn

1907 wurden in Paris die ersten von den Brüdern Auguste und Louis Lumière erfundenen „Autochrome-Farbrasterplatten“ (mehrfach beschichtete Glaspositive, die mithilfe eingefärbter Kartoffelstärke-Partikel ihre Leuchtkraft entfalten und im Gegensatz zu den Gummidrucken mit einer einzigen Aufnahme belichtet werden können) auf den Markt gebracht. Sie wurden als Durchlichtbilder (aber Unikate) entweder auf eine Leinwand projiziert oder mit einem Diaskop betrachtet. Heinrich Kühn war fasziniert von dieser neuen Technik und setzte sie zwischen 1907 und 1913 für seinen Werkzyklus und seine Zeit richtungsweisend ein.

Impressionismus, Naturalismus, Symbolismus und beginnende Moderne veränderten in der Malerei an der Wende des 19. ins 20. Jahrhundert, das Wahrnehmungsbewusstsein von Kunstschaffenden und deren Publikum. Heinrich Kühn gilt als wichtigster Vertreter des Piktorialismus, einer fotografischen Stilrichtung, die jene Tendenzen der Malerei für die fotografische Bildkonzeption aufnimmt. Kontrastierende Farbakkorde, eine dynamische Perspektive, verringerte Konturenschärfe und gezielte Lichteffekte sind szenisches Gestaltungsprinzip der Landschaftspartien, bevorzugten Porträts (seine Modelle waren seine vier Kinder und das Kindermädchen) und Stillleben.

„In der Bucht von San Marco, Venedig“, Gummidruck, 1898.

Foto: © Estate of Heinrich Kühn

Die späteren Autochrome lassen jedoch eine vom Naturvorbild losgelöste, abstrahierte Bildsprache erkennen, die weniger der Figur Raum gibt, sondern sie in die Fernsicht stellt. Die Strukturiertheit des Objekts bzw. die Schärfung der Linie und die Farbe unterstützen damit den Weg zum neuen Sehen. Robert Mapplethorpes „Blumenbilder“ oder Jeff Walls großformatige Leuchtkästen-Bilder zeugen vom Rezeptionscharakter der Arbeit Heinrich Kühns mit Gültigkeitswert. Heute existieren noch an die 350 Autochrome, die sich Großteils im Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek befinden.

Mein Dank richtet sich an Markus Heltschl, Autor, Filmemacher und Kurator, für das zur Verfügung gestellte Bildmaterial.

Credits
  • Autorin: Eleonora Bliem-Scolari
  • Fotografie: Heinrich Kühn

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