"Der Tourist ist in diesem Sinne Bildhauer"
"Der Tourist ist in diesem Sinne Bildhauer"
Der Südtiroler Felix Tschurtschenthaler hat mehrere Berufe: Bildhauer, Fotograf, Projektkünstler, aber auch Berg- und Schiführer. Dolomitenstadt diskutierte mit ihm.

Warst du zuerst Künstler oder Bergsteiger?

Ich glaube, das ist zugleich entstanden. Ich habe die klassische Holzbildhauerausbildung im Ahrntal und in Gröden gemacht. Gleichzeitig habe ich mit dem Bergsteigen begonnen. Oder vielleicht früher, mit meinem Vater? Sobald man hier gehen kann, geht man auf die Berge.

Du hast Bildhauer gelernt und warst in München Meisterschüler von Olaf Metzel. Und doch machst du heute Fotos und Videoinstallationen?

Das Ziel war immer, Kunst zu studieren. Man muss zuerst ein Handwerk beherrschen, um sich mit Kunst auseinanderzusetzen. Es spielt später keine Rolle mehr, ob man ein Handwerk beherrscht oder nicht, aber es ist Mittel zum Zweck.

Um die Aufnahmsprüfung zu schaffen?

Auch um ausdrücken zu können, was man ausdrücken will. Wo das Handwerk überwiegt, das ist Kunsthandwerk. Wo die Aussage überwiegt, ist es Kunst. Ich will von einem Kunstwerk, dass etwas passiert, wenn ich es anschaue.

Was soll beim Betrachten deiner Kunst passieren?

Das ist individuell unterschiedlich. Jeder ist anders geprägt. Es gibt Kunstwerke, die sind politisch und zielen auf etwas Bestimmtes hin. Andere setzen sich nicht mit politischen Themen auseinander, aber es passiert trotzdem etwas – gesellschaftspolitisch.

Sollen die Betrachter etwas Gesellschaftspolitisches für sich finden?

Es ist sicher Aufgabe eines Künstlers, die Gesellschaft politisch zu betrachten, auch Dinge aufzuzeigen. Aber ich würde nicht so weit gehen, der Gesellschaft Vorwürfe zu machen, dass sie ist, wie sie ist. Der Großteil der Gesellschaft muss einfach Geld verdienen und hat kaum Zeit, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen. Dann gibt es jene, die den großen Luxus haben, über scheinbar Sinnloses nachdenken zu können.

Warum Luxus?

Wenn jemand seine Familie ernähren muss, muss er zuerst arbeiten gehen. Erst danach kommt alles andere.

Demnach leben viele von uns inzwischen in einer luxuriösen Position.

Purer Luxus. Die Arbeit eines Künstlers ist es auch, gesellschaftskritisch zu sein und sich mit Dingen zu beschäftigen, die vordergründig nutzlos sind.

Man nimmt sich diesen Luxus vielleicht, aber kann man in Südtirol von Kunst leben?

Es ist ein langer Weg, aber es funktioniert. Der Standpunkt ist heute unwichtig. Allerdings ist es wichtig, mit der Kunst, die man macht, am richtigen Platz zu sein. Als ich in München an der Akademie studierte, war die Stadt für mich nicht der ideale Ort, weil meine Kunst mit Bergen zu tun hat. Man muss fast schon sagen, es ist „Kunst am Berg“.

Ist es wichtig, die Berge für diese Kunst tatsächlich um dich zu haben?

Ja, und das ganze Umfeld gehört dazu, auch die Touristen. Weil sie modellieren die Berge ebenso wie der Wind und der Regen. Der Tourist ist in diesem Sinne Bildhauer.

Nur dass er es wahrscheinlich gar nicht weiß.

Das ist unbewusst. Wir sind heute in den Alpen vielleicht soweit, dass der Tourismus unsere Kultur darstellt. Früher war das Katholische unglaublich wichtig, heute finden die Prozessionen für die Touristen statt. Das sind fast schon Performances.

Auch die sogenannte Volkskultur wird für die Touristen quasi wiederentdeckt.

Genau. Ich will niemandem vorwerfen, dass es nur deshalb passiere, aber es zielt ein bisserl dahin.

„Meine Kunst hat mit Bergen zu tun. Man muss fast schon sagen, es ist Kunst am Berg.“

Warum ist das für dich als Künstler wichtig?

Weil es so gesehen eine Plastik ist. Bei einer Skulptur wird immer etwas weggemeißelt, weggeschnitzt, bei einer Plastik wird etwas dazu gebaut. Wenn man das abstrakt sieht, ist das System des Tourismus eine soziale Plastik, wie sie Joseph Beuys in den 1980er Jahren beschrieben hat. Ich meine das nicht wertend, aber bei dieser sozialen Plastik im Sinne Beuys gibt es die, die den Ton herkarren, und jene, die modellieren.

Hältst du eine der beiden Rollen inne?

Ich glaube schon, aber weniger als Künstler, eher als Person.

Indem du hier wohnst und arbeitest?

Ja, ich füge zur sozialen Plastik hinzu.

Beuys ist demnach ein Bezugspunkt für dich?

Indem er für sich und die Gesellschaft definiert hat, dass jeder Mensch Künstler ist und jeder Kunst machen kann, hat er einen ganz neuen Aspekt in die Kunst geworfen. Das war revolutionär. Darauf aufbauend sehe ich Bildhauerei nicht nur als handwerkliches Tun, sondern auch so, die Augen offen zu halten und zu bemerken, dass eine Skulptur da ist, die sich im Laufe der Zeit verändert.

Und sobald du in den Bergen bist, wirst du auch als Künstler von der Skulptur beeinflusst?

Es ist alles eins. Ich merkte das beim Studium. Da fängt man an, Dinge auszuprobieren. Ich fing mit Videos an und habe irgendwo Luftballons angebunden und zerplatzen lassen. Oder ich habe Lampenschirme mit Hebebühnen an die Decke gedrückt. Sie haben einen Knall gemacht und sind kaputt gewesen. Irgendwann habe ich angefangen, dokumentierte Performances zu machen, habe eine Kamera aufgestellt und sie dann eingemauert. Ein anderes Mal habe ich mit Stühlen und Mülleimern und was sonst noch im Münchner Atelier herumgestanden ist, einen Turm gebaut und bin oben durch eine Schachtöffnung hinausgeklettert. Bis ich schließlich mit Handwerkszeug aus dem alpinen Bereich, mit Pickel und Steigeisen, anfing auf Gipswände einzuschlagen. Erst da habe ich es verstanden: Vorher dachte ich, ich mache in München Kunst und sobald ich über den Brenner fahre, sind Berge vor mir und ich gehe Bergsteigen. Dann aber sah ich, es ist alles eins, und das bin alles ich.

Deine Kunst wirkt auf mich nachdenklich.

Das kann schon sein, denn es braucht viel Nachdenken. Vielleicht kennst du das Bild „Schneller höher weiter“, wo ich am Hexenstein eine Leiter aufgestellt habe. Zum Schluss bleibt ein einziges Bild übrig, doch es gibt eine relativ lange Vorlaufzeit, bis alles erdacht ist und alle Kleinigkeiten beisammen sind. Das ist das Nutzlose, die Anlaufzeit, das Vorarbeiten.

Nutzlos?

Ja, weil es nicht lebensnotwendig ist. Nicht, dass es nichts bringt, aber es ist nicht wichtig für das Überleben.

Das Bild könnte ohne die Vorarbeit nicht existieren?

Es braucht den Prozess. Es ist dieses elendige Abmühen, bis am Ende ein Kreis oder Pfeil als letztes Bild da ist. Der Prozess ist wichtig, das eine kann ohne das andere nicht sein.

Schreibst du für deine Videoinstallationen immer eine Art Skript?

Ich skizziere Bilder. Schreiben ist schlecht, da bin ich schulisch negativ vorgeprägt. Erst in München verstand ich für mich selbst, dass ich eigentlich Legastheniker bin und dass ich mir, wenn ich einen Text lernen will, etwas Farbliches oder eine kleine Zeichnung dazu machen muss, denn den Text kann ich mir nicht merken, das Bild hingegen schon.

Du hast sehr früh gewusst, dass du Künstler werden möchtest. Wie entstand dieses Wissen?

Das ist sicher eine Prägung. Vielleicht ist die Förderung in der Familie in verschiedenen Aspekten da gewesen. Ich glaube aber, weit mehr ist es eine soziale Geschichte. Ich habe mich in klassischen Systemen wie in der Schule nie so gut zurechtgefunden. Irgendwo habe ich meine Ecke gefunden, das war das Grafische.

Vor dir liegt ein Story Board für ein Video. Ein Sisyphos, der seinen Stein aufhebt und zu einem Luftballon macht?

Das ist interessant. Ich habe gar nicht an Sisyphos gedacht – aber eigentlich schon, ja.

Das ist das Wunderbare an Kunst: Man darf sich Dinge erdenken.

Der allgemeine Effekt ist da, aber jeder sieht etwas Anderes, je nachdem wie man geprägt ist und welche Bilder man schon im Kopf hat.

Und welche – wieder „nutzlosen“ – Wege der Betrachter gegangen ist. Du könntest es relativ einfach haben und Kunst für die Touristen machen.

Ja, aber ich spiele immer damit. Mir ist diesbezüglich wichtig, dass ich nicht nur als Künstler sondern auch als Bergführer wahrgenommen werde. Ich habe dieses prostituierte Arbeiten mit dem Tourismus lange Zeit stark kritisiert, aber irgendwann habe ich eingesehen, entweder du gestaltest mit, oder du gehst weg. (Nach einer Pause lacht er:) „Prostituiert“ ist natürlich überzogen.

Es geht um die Frage, was einem Raum und einer Gesellschaft noch gut tut.

Wenn du mittendrin bist, kannst du sagen: „So weit gehe ich, und hier ist Schluss!“ Früher habe ich es anders gesehen, aber das ist halt auch ein Prozess.

Den Bergführer würden viele als Brotberuf bezeichnen. Ist es für dich ein Teil dessen, was du als Künstler machst?

Sicher sogar. Ich mache das nicht nur, um meine Brötchen zu verdienen – natürlich auch! Es ermöglicht mir sehr viel, weil dadurch kann ich die Kunst machen, die ich machen will. Für mich ist Kunst schon so, dass etwas passiert.

Auch mit dir selbst?

Natürlich auch, aber wenn ich Steine in einen See werfe, entstehen Wellen. So ungefähr ist für mich Kunst. Du bist der, der den Stein hineinschmeißt, und dann entsteht um dich herum eine Resonanz.

Felix Tschurtschenthaler
Felix Tschurtschenthalerwurde 1980 in Innichen geboren, besuchte die Schnitzschule St. Jakob im Ahrntal und absolvierte eine Gesellenausbildung an der Fachschule für Holzbildhauer in St. Ulrich/Gröden. Nach der Meisterschule für Holzbildhauer besuchte er die Akademie der Bildenden Künste in München als Meisterschüler bei Olaf Metzel. Er ist seit 2010 Mitglied des Südtiroler Künstlerbundes, seit 2013 Berg- und Schiführer. Tschurtschenthaler gewann zweimal den ersten Preis beim Danner Wettbewerb München, erhielt 2008 ein Stipendium des Bayerischen Staatsministeriums, gewann 2009 den Akademiepreis München und 2010 den Preis der LfA-Förderbank beim Filmfest am Gasteig, München.
Felix Tschurtschenthalerwww.felixtschurtschenthaler.com
Credits
  • Autorin: Daniela Ingruber
  • Fotografie: Privat

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