Simon
der Fleißige
Simon der Fleißige
Eigentlich hieß er Simon Mareigl und wie viele Künstler vor und nach ihm nannte er sich wie der Ort, aus dem er stammte und in dem er arbeitete: Taisten.

„Als wir das erste Mal auf dem Gerüst standen, dachten wir uns, das muss man zeigen.“ Jörg Riedel, Restaurator des Bundesdenkmalamtes, steht mit einer Gruppe von Journalisten auf einer provisorisch eingezogenen Zwischendecke unter der Kuppel der Kapelle von Schloss Bruck, Auge in Auge mit einem Meisterwerk. Die im späten 15. Jahrhundert gemalte „Schutzmantelmadonna“ breitet vor den Besuchern ihren Umhang aus, Engel halten das Tuch, ihr Blick wirkt verklärt, ganz im Gegensatz zu den ernsten Gesichtern der Menschen, die sich unter dem Mantel drängen. Es sind höfische Typen, keine Bauern, auch das Stifterpaar kniet unter dem schützenden Manteltuch, Leonhard und Paola, die letzten Görzer Grafen, die auf dem Schloss residierten. Riedel beginnt, die Geschichte der Fresken und der Schlosskapelle zu erklären.

Restaurator Jörg Riedel: „Als wir das erste Mal auf dem Gerüst standen, dachten wir uns, das muss man zeigen.“
Schloss Bruck hoch über Lienz war die Heimat von Leonhard und Paola, den letzten Görzer Grafen.

Man muss kein Kunstkenner oder Historiker sein, um angesichts der erzählerischen Kraft der opulenten Bilderzyklen ringsum ganz plötzlich in eine andere Epoche einzutauchen. Diese farbenprächtigen Bilder sind mehr als ein halbes Jahrtausend alt und doch so klar und frisch in ihrer Bildsprache, dass man unwillkürlich an moderne Comic-Kunst denken muss oder besonders kunstvolle Tatoos.

Diese Bilder haben eine „Bedeutungsperspektive“, würden Kunstkenner sagen, ein semantisch geleitetes Darstellungsprinzip. Hier sind die Wichtigen groß gezeichnet, die Madonna zum Beispiel – und die anderen, die sich unter ihren Mantel ducken, sind klein und sollten sich wohl auch so fühlen. Hier war nicht nur ein Maler, sondern auch ein Erzähler am Werk, ein visueller Dramaturg, der den mittelalterlichen Raum zum ewig lesbaren Kunstwerk machte: Simon von Taisten. Eigentlich hieß er Simon Mareigl und wie viele Künstler vor und nach ihm nannte er sich wie der Ort, aus dem er stammte und in dem er arbeitete: Taisten.

Mit verklärtem Blick schaut die Madonna zum Himmel, während ihr Mantel sorgfältig begutachtet wird.

Welsberg-Taisten oder Monguelfo-Tesido liegt nur ein paar Kilometer von Osttirol entfernt im Südtiroler Pustertal, auf einem fruchtbaren Boden für die alte sakrale Kunst in der Region und darüber hinaus. Gut 200 Jahre nach Simon von Taisten wurde in Welsberg ein anderer Großer der Freskenmalerei geboren, Paul Troger. Und schon zu von Taistens Zeit war das Pustertal ein Mekka des Altarbaus. Simons Vorbild und Lehrer Leonhard von Brixen arbeitete in der Bischofsstadt quasi um die Ecke und im nahen Bruneck werkte Michael Pacher, ebenfalls ein Meister, dessen Kunst die Jahrhunderte überdauerte. Sie alle fühlten sich nicht nur als Künstler, sondern auch als Handwerker in einem Gewerbe, das tatsächlich Meisterschaft erforderte.

Ein echtes Fresko wird auf den bereits formfesten aber noch nicht durchgebundenen Putz gemalt, der in mehreren Schichten aufgetragen wird. Der Wand- und Bildaufbau bei monumentalen Arbeiten ist zeitintensiv und muss sehr sorgfältig geplant werden. Entscheidend ist der letzte Schritt, das Auftragen des eigentlichen Kunstwerks mit der finalen Putzschichte. In dieser Phase muss alles sehr schnell gehen. Es gibt keine zweite Chance für den Künstler und keine Möglichkeit zur Korrektur. In der  Kapelle von Schloss Bruck sieht das kundige Auge des Restaurators die Spuren der Entstehung dieser Fresken, zarte Ritzungen und Zirkelstriche, die als Vorarbeit für die großflächigen Gemälde die Wände strukturierten.

Man muss kein Kunstkenner oder Historiker sein, um angesichts der erzählerischen Kraft der opulenten Bilderzyklen ringsum ganz plötzlich in eine andere Epoche einzutauchen.

Auf Papier wurden Motive vorgezeichnet und ihre Konturen mit Nadelstichen auf die Wand übertragen. Im Moment des eigentlichen Bildauftrags arbeitete ein ganzes Team Hand in Hand, Maurer und Farbenmischer halfen dem Künstler, der schnell und sicher seine Motive auftrug, ohne Zögern, in durchgehenden Strichen. Alles war minutiös geplant und in „Tagwerke“ eingeteilt, einzelne Bildsegmente, die an einem Tag auf den Putz aufgetragen wurden. Mit dem Trocknen der Wand war das Bild fixiert – über die Jahrhunderte bis heute. Nur auf den feuchten Kalkputz aufgetragene Bilder sind „fresco“, also echte Fresken, wenngleich auch Malerei auf trockenem Putz (secco) manchmal so bezeichnet wird.

Über die Jahrhunderte bemalten mehrere Künstler das Innere der Schlosskapelle und gingen dabei nicht immer sensibel mit dem Werk ihrer Vorgänger um.

Simon von Taisten malte seinen epochalen Zyklus mit den Evangelisten und der Schutzmantelmadonna nicht auf jungfräuliche Wände. Schloss Bruck und seine zweigeschossige Kapelle wurden zwischen 1252 und 1277 erbaut. Über die Jahrhunderte bemalten mehrere Künstler das Innere der Kapelle und gingen dabei nicht immer sensibel mit dem Werk ihrer Vorgänger um. 1450 schuf der Lienzer Künstler Nikolaus Kenntner das Fresko „Gnadenstuhl“ in der Apsiswölbung der Kapelle. Simon von Taisten fügte in das Bild seines Vorgängers ohne viel Federlesens eine Taube ein. Das Patrozinium der Kapelle hatte sich geändert, sie war zwischenzeitlich dem Heiligen Geist geweiht worden und so passte der Vogel buchstäblich ins Bild.

Er wurde allerdings bei einer Restaurierung im Jahr 1912 wieder entfernt. Nicht nur an diesem Beispiel wird sichtbar, dass neben den Künstlern auch Generationen von Restauratoren in die Gestaltung der Wandmalerei eingriffen. Die Restaurierung von 1912  leitete Landeskonservator Johann Deininger. Der Maler und Restaurator Raffael Thaler aus Innsbruck führte die Arbeiten aus und wurde heftig kritisiert. „Man putzte nicht nur die alte Malerei einfach weg, sondern schreckte auch vor zahlreichen Übermalungen nicht zurück“, beklagte der Künstler Alfons Siber in einem Beschwerdeprotokoll. Restaurator Riedel gibt ihm heute teilweise recht: „Thaler beschränkte sich nicht auf die Erhaltung, er rekonstruierte, sprich malte und ergänzte selbst einzelne Partien.“

Neben  Simon von Taisten und Nikolaus Kenntner hinterließ zwischen 1560 und 1580 auch Andreas Peurweg maßgebliche Spuren in der Schlosskapelle, er malte das Weltgericht und Teile des Passionszyklus mit den Szenen der Geißelung, Verspottung und Kreuzigung an der Südwand der Oberkapelle. Die Qualität Simon von Taistens erreichte er nicht.

Vor Beginn der Ausstellungssaison auf Schloss Bruck, die – einmal mehr – auf den Lieblingskünstler der Osttiroler, Albin Egger-Lienz fokussiert, nutzte das Team des Bundesdenkmalamtes die Gelegenheit, um sich in Ruhe ein Bild vom Zustand der spätgotischen Fresken in der Schlosskapelle zu machen. „Vortrefflich“, lautete das finale Urteil. „Die Fresken befinden sich in einem bravourösen Erhaltungszustand“, attestiert Riedel und ortet dennoch Handlungsbedarf.

Ein temporärer Wasserschaden hat dem Motiv „Weltgericht“ zugesetzt, da bröckelt buchstäblich der Putz, in die wetterexponierte Westwand der Kapelle dringt Feuchtigkeit „progressiv“ ein und oft deuten nur winzige Kleinigkeiten auf Veränderungsprozesse in diesem spektakulären Kunstraum hin. Nützlich sind zum Vergleich alte Aufnahmen, die Albin Eggers Vater Georg Ende des 19. Jahrhunderts aufgenommen hat. Er arbeitete als Fotograf in Lienz.

Neben penibler Kartografierung und fotografischer Dokumentation messen und kontrollieren die Restauratoren die Feuchtigkeit der Wand, analysieren im Labor Pigmente und Salze, begeben sich zugleich aber auch auf kunsthistorische Spurensuche zur Genese des imposanten Bilderzyklus. Am Ende dieser akribisch und auch detektivisch angelegten Arbeit soll ein Konzept stehen, das als wissenschaftlicher Leitfaden für die Erhaltungsarbeiten der kommenden Jahre und Jahrzehnte dienen kann.

Noch unmittelbarer, wuchtiger und unterhaltsamer als auf Schloss Bruck erlebt man die malerische Erzählkunst des Meisters in der Wallfahrtskirche Maria Schnee in Obermauern.

Simon von Taistens Fresken zählen historisch und künstlerisch zu den wertvollsten Schätzen der Stadt und bilden vor allem auch eine Klammer in deren Umland und die Region der ehemaligen Grafschaft Görz. Von Taisten war ein sehr produktiver Maler, der in seinem Werk das bäuerliche Alltagsleben im spätmittelalterlichen Pustertal zugleich drastisch und lebendig einfing. Noch unmittelbarer, wuchtiger und unterhaltsamer als auf Schloss Bruck erlebt man die malerische Erzählkunst des Meisters in einem Epos, das um 1484 und damit noch vor der Schlosskapelle entstand: 29 Passionsszenen und ein Bild des Martyriums des Hl. Sebastian in der buchstäblich atemberaubenden Wallfahrtskirche Maria Schnee in Virgen/Obermauern.

Dieses herausragende Kulturdenkmal ist nach wie vor vielen Einheimischen und den meisten Gästen des Bezirkes unbekannt und dabei wirklich spektakulär, schon allein durch ihre Lage und das bäuerliche Gebäudeensemble, an dem man auf dem Weg zur Kirche vorbeispaziert. Wer noch nie in der Kirche Maria Schnee war und zum ersten Mal durch die Tür in dieses Gotteshaus tritt, stößt ein fast zwangsläufiges Ah! aus.

Wer sich auf diese Bilder einlässt, muss unwillkürlich an die Menschen vor 530 Jahren denken, an die Bauern und Knechte, Mägde und Handwerker, die hier knieten

Alle Bildfelder an der Nordwand der Wallfahrtskirche werden wie ein Comic von links nach rechts gelesen. Simon von Taisten geht fast filmisch ans Werk, lässt Christus beim letzten Abendmahl in einem Bild sogar zweimal auftreten, einmal im Hintergrund mit einer Gruppe von Jüngern, einmal im Vordergrund des Bildes, um die Fußwaschung und das Abendmahl auf einem Gemälde zu verschmelzen.

Wer sich auf diese Bilder einlässt, muss unwillkürlich an die Menschen vor 530 Jahren denken, an die Bauern und Knechte, Mägde und Handwerker, die hier knieten, des Lesens unkundig aber mit offenen Augen und sprachlos angesichts dieser Dramatik der Heilsgeschichte an der Wand.

Es war die produktivste Zeit von „Simon dem Fleißigen“, er bemalte einen bekannten Bildstock in der Nähe und schuf Fresken in der St. Nikolauskirche in Moos bei Obertilliach, in der St. Wolfgangskirche in Geiselsberg bei Olang und in der St. Mauritius-Kirche in Innichen.

Fotograf und Architekt Wolfgang C. Retter folgte für diese Dolomitenstadt-Kulturreportage den Spuren des Malers und fotografierte neben der Schlosskapelle in Lienz und der Kirche in Obermauern auch zwei typische Spätwerke Simon von Taistens, Tafelbilder in der St. Peterskirche in Lavant und in der Kirche von Zwickenberg in Kärnten. Dabei zeigt sich sehr schön, warum sich die Beschäftigung mit diesem alten Meister lohnt.

Auch in der Kirche St. Peter in Lavant hinterließ der Meister seine Spuren.
Die Tafelbilder der wunderschön restaurierten Kirche stammen von Simon von Taisten.

Simon von Taisten war nicht der wichtigste Maler seiner Zeit, aber ein Ausnahmekönner und Meister des spätgotischen Freskos, der im historischen und kulturellen Kontext Osttirols auch zeitgemäß interpretierbar ist. Seine Werke verteilen sich auf jenen Zentralraum der ehemaligen Grafschaft Görz, der heute wieder als regionaler Kulturraum gesehen wird. Schloss Bruck, Obermauern und Lavant, Innichen, Olang, Zwickenberg und Heiligenblut – das sind beeindruckende Orte einer Gesamtregion, die der Künstler mit einer gemeinsamen Klammer verbindet, über die Grenzen von Staaten und Bundesländern hinweg. Ein Ausflug auf Simon von Taistens Spuren ist landschaftlich, architektonisch, spirituell und kulturell ein Erlebnis, unterhaltsam, erbaulich – und noch immer ein Geheimtipp.

Motiv aus der Kirche von Zwickenberg (Kärnten).
Credits
  • Autor: Gerhard Pirkner
  • Fotografie: Wolfgang C. Retter

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