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Erst Bombenalarm, dann Bunkerstimmung

Ein Blindgänger aus der Vergangenheit störte kürzlich die Hamburger Gegenwart.

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Mein Viertel ist abgesperrt. Rote Ampeln und keiner bewegt sich.
Donnerstag, 28. 01. 2016 14:30 Uhr Ich bin auf dem Nachhauseweg. Polizeiwagen stehen an fast jeder Kreuzung rund um die Straße, in der ich wohne. Rettungswagen mit Folgetonhorn fahren nicht weiter bis zum naheliegenden Krankenhaus, sondern bleiben ohne ersichtlichen Grund stehen. Feuerwehrfahrzeuge kommen dazu. Ich begegne meinem Nachbarn auf der Straße. Ich sage: "Hallo." Er sagt: “Wir haben eine Bombe.“ Er zeigt mir auf dem Handy einen Tweet der Polizei Hamburg, darin der Evakuierungskreis rund um die Fundstelle. Unser Haus liegt in der Gefahrenzone. „Wir sollen die Wohnungen verlassen“, sagt mein Nachbar. Für wie lange wisse er nicht. Ich gehe nach Hause, in die Wohnung, suche ein paar Sachen zusammen. Das Haus ist still, keiner scheint mehr da zu sein. Die Geschäfte in der Straße sind noch geöffnet, im Supermarkt herrscht Betrieb, Verkehrsgeräusche höre ich nicht mehr. Ich gehe zu der Straße, in der die Bombe von einem Baggerfahrer in einer Baugrube gefunden wurde. Am Straßeneingang Absperrband, dahinter ein Polizeimotorrad, vor der Baugrube ein roter Container, der zum Entminungsdienst gehört.
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Der rote Container des Entminungsdienstes steht dort, wo die Bombe liegt.
250 kg schwer sei sie, die Bombe, 100 davon sind Sprengstoff, 140 tödliches Schrappnellmaterial. Einer von unzähligen Blindgängern, die sich bei den Bombardements des II. Weltkriegs in Hamburgs Erde bohrten, versteckt blieben unter eilig nach dem Krieg erbauten Häusern. In der Geschwister-Scholl-Straße, benannt nach Hans und Sophie Scholl, den von den Nationalsozialisten hingerichteten Mitgliedern der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, waren es Garagen, ein kleiner Handwerksbetrieb und ein hübsches Wohnhaus, die vor Kurzem abgerissen wurden. Eine Bombe von noch 2.900 in Hamburg vermuteten, eine weitere zu den schon über 11.000, die seit 1945 entschärft wurden. 15:00 Uhr Ich spreche mit einem Polizisten, der sagt, er wisse nicht, wann die Evakuierung richtig losginge, alte Menschen müssten noch aus den Wohnungen gebracht werden, wie lange es dauere, wisse er auch nicht, sicher ein paar Stunden, vielleicht bis in die Nacht hinein, Funk und Fernsehen würden berichten, soziale Medien auch. Es kommen immer mehr Einsatzfahrzeuge. Sanitäter stehen in Gruppen beieinander, machen Scherze, lachen. Ein paar Mädchen im Volksschulalter laufen nebeneinander her, erzählen wilde Geschichten, haben vor Aufregung rote Wangen.
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Die Polizei beruhigt und informiert auf Augenhöhe.
  Weiter weg erklärt ein Polizist zwei Kindern, was er da mache, dass er da ein Funkgerät habe, dass da hinten eine Bombe sei, dass sie keine Angst haben müssten. Ein Anderer fragt bei der Einsatzleitung nach, ob die Anwohner auch per Taxi evakuiert werden könnten. Einsatzteams versammeln sich, Gruppen von Polizisten gehen von Tür zu Tür, klingeln, sagen was los sei. 16:00 Uhr Ich gebe meiner Freundin Bescheid, sie solle nicht nach Hause kommen, sondern erst wenn Entwarnung gegeben und die Bombe entschärft worden sei. An verkehrsbefreiten Kreuzungen stehen Menschen und warten bis die Fußgängerampel auf grün springt. Eine Dame, die vom Alter her noch die Bombennächte im Krieg erlebt haben könnte, fragt laut, ob die Ampeln kaputt seien. Eine Kabriofahrererin mit jungem Gesicht und alten Händen versucht rasant in eine abgesperrte Straße zu fahren, wird von einem Polizisten angehalten, gestikuliert, sagt, sie wolle ja nur, also wirklich, da solle man doch nicht so sein. Ampeln springen auf Grün und keiner fährt. 17:00 Uhr Ich treffe meine Freundin in der Innenstadt, wo die Bombe keine Rolle spielt, viel zu weit weg, aufgelöst zwischen tausenden eiligen Mitmenschen. Freunde rufen an, wir könnten bei ihnen schlafen, wir müssten im Extremfall nicht in die Notschlafstellen. Meine Freundin erzählt von Scherzen auf Twitter, in wohlhabenden Nachbarvierteln sei das Boot voll, man könne keine Eppendorfer Flüchtlinge aufnehmen, es sei einmal genug. Wir lachen. 18:30 Uhr Ich fahre wie jeden Donnerstag zur Bandprobe in ein ehemaliges Arbeiterviertel in Hamburg, dort wo 1943 der Feuersturm am ärgsten war. Wo Phosphorbomben die Straßen schmelzen ließen, Menschen starben, kein Stein auf dem anderen blieb, nur der Hochbunker noch aus der rauchenden Einöde ragte. Heute sind im Bunker Proberäume für Musiker. Ein Fluchtpunkt damals wie heute. Auf dem Weg dorthin begegne ich Menschen, die vielleicht vor Kurzem noch Bomben fallen, explodieren, Städte und Dörfer vernichtet sahen, die keiner freundlich und mit viel Aufwand und gut vorbereitet evakuiert hat, mit einem der besten Krankenhäuser Europas gleich ums Eck. 19:10 Uhr Über 6.000 Menschen sind evakuiert worden, ein paar sollen sich dagegen gewehrt haben. Der Luftraum über Hamburg wird gesperrt. Etliche Flüge werden abgesagt. Die Verkehrssperrung führt zu weitreichenden Staus. Im Radio wird die Meldung von der Bombenentschärfung oft wiederholt.
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Gut 70 Jahre schlummerte die 250-Kilo-Bombe unter den belebten Straßen von Hamburg.
Das Entschärfungsteam beginnt mit der Arbeit, hat die Bombe mit Gurten gesichert, schneidet mit einem Wasserstrahl die Zündkapsel heraus. Seit Stunden geistert die Meldung durch die Medien, der Baggerfahrer habe einen Zeitzünder ausgelöst, die Bombe könne jeden Moment losgehen. Ich betrete den Bunker, der Empfang bricht hinter den dicken Betonmauern ab. 23:00 Uhr Ich trete vor den Bunker. In meinen Ohren singt das Pfeifen des Schalldrucks der Musik nach. Mein Handy ruft stundenalte Nachrichten ab. Eine SMS meiner Freundin sagt, sie sei zu Hause, die Bombe sei weg, entschärft, alles sei gut gegangen. Im Netz taucht ein Video auf. Die Gefahr verpufft mit einem gespenstisch dumpf hallenden Entschärfungsknall, dazu Sirenengeheul. In der U-Bahn beginnt ein betrunkener Mittzwanziger mit manischen Augen rassistischen Blödsinn zu brüllen, wird immer lauter, brüllt kurz vor meiner Station voller Hass drei Mal „Heil Hitler“. Ich denke: ‘Unheilbar, der Hitler, längst tot‘. Alle außer dem brüllenden Mann steigen aus. Ich lasse den Blindgänger hinter mir und gehe nach Hause.
Marcus G. Kiniger wurde 1969 in Wien geboren. Seine Familie kam 1976 nach Sillian, wo der gelernte Tourismuskaufmann und ambitionierte Musiker bis 2008 lebte, bevor er nach Hamburg übersiedelte. In Norddeutschland vertreibt Kiniger Produkte aus Tirol. Er schreibt für dolomitenstadt.at die Kolumne "Waterkantiges" und ist auch regelmäßiger Autor im DOLOMITENSTADT-Printmagazin.

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