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In den Weiten Patagoniens vom Winde verweht

Nach 37 Tagen "Anreise" treten wir endlich in die Pedale. Doch diese Tour ist härter als erwartet.

Vor über einem Monat, im November 2022, sind wir daheim in Österreich aufgebrochen. Man braucht viel Zeit, um ohne Flugzeug nach Patagonien zu kommen. Drei Wochen Kreuzfahrt über den Atlantik, vier Tage Busfahrt nach Ushuaia zur südlichsten Stadt der Welt, elf Stunden Autostoppen und weitere fünf Stunden Busfahrt bis nach Rio Turbio in Argentinien. Nach 37 Tagen "Anreise" beginnt nun endlich unsere eigentliche Reise. Am Tag nachdem Argentinien die Fußballweltmeisterschaft gewonnen hat, hängen wir unsere frisch gepackten Taschen an die Fahrräder und lassen die Reisetaschen in unserer chaotischen Warmshower-Unterkunft zurück. Vorfreude liegt in der Luft. Wir schwingen uns in den Sattel und verabschieden uns hupend und klingelnd von unserem Gastgeber Guerro. 

"Gauchito Gil" ist ein in Argentinien sehr populärer Volksheiliger. Kleine Schreine mit roten Fahnen befinden sich an vielen Orten am Rand von Landstraßen.
Da Gauchito Gil als eine Art Patron von Auto-, Bus- und Lastwagenfahrern gilt, ist es üblich, zu hupen, wenn man an einem Schrein vorbeifährt.

Tritt für Tritt geht es langsam aufwärts. Die erste Grenzüberquerung mit dem Fahrrad steht an. Der Dorotea-Pass liegt auf knapp 600 Höhenmetern und ist damit einer der niedrigen Andenpässe auf unserem langen Weg nach Norden. An der chilenischen Grenzstation werden unsere Taschen nach frischen Lebensmitteln gescannt, danach dürfen wir passieren. Ich setze die Sonnenbrille auf, nicke Ferdi zu und gemeinsam treten wir in die Pedale.

Mit den ersten Sonnenstrahlen, die es durch die Wolkendecke schaffen, rollen wir die verbleibenden 20 Kilometer nach Puerto Natales hinunter. Da ist es wieder, dieses einzigartige Gefühl auf dem Fahrrad zu sitzen, den Blick in die Landschaft schweifen zu lassen, den Fahrtwind im Gesicht zu spüren und ganz allein durch die eigene Muskelkraft vorwärts zu kommen. Wir sind zurück auf dem Fahrrad und es fühlt sich unglaublich gut an!

Da ist es wieder, dieses einzigartige Gefühl auf dem Fahrrad zu sitzen.

Viele bunte Häuser, einige Einheimische, die mit dem Rad unterwegs sind und sogar ein junger Mann der auf einem Lastenfahrrad an uns vorbei düst. Puerto Natales macht einen sehr netten ersten Eindruck auf uns. Ein guter Ort zum Verweilen, doch wir wollen nicht länger warten. Uns zieht es hinaus in die Natur.

Wir sehnen uns nach unserer einfachen Campingküche, nach kuschelig-wohligen Nächten in unseren Schlafsäcken und natürlich danach, in die Pedale zu treten. Doch vorerst heißt es Essen einkaufen und zwar für eine ganze Woche. Auf unseren bisherigen Touren waren wir nie länger als drei Tage ohne Einkaufsmöglichkeit. Das hier ist Neuland für uns und erfordert mehr Planung als üblich. Es dauert eine ganze Weile, bis wir mehrere Geschäfte abgeklappert und alles beisammen haben. Erst gegen Abend verlassen wir die Stadt und fahren schweren Rades die ersten Kilometer Richtung Torres del Paine Nationalpark.

Letzte Stärkung vor der Abfahrt in Puerto Natales.

Die Sommertage hier im Süden sind bekanntlich sehr lang und so kommen wir trotz später Stunde gerade rechtzeitig zum Sonnenuntergang an unserem Schlafplatz an und genießen den Blick auf die lange herbeigesehnten Berge. Ein wunderbarer Ort für die erste Nacht im Zelt! Nach einer erfrischenden Flaschendusche und einem schmackhaften Campingessen ist es Zeit fürs "Bett". Der nächste Tag beginnt mit Wasser auffüllen an einer nahen Rangerstation und unserem altbewährten Radler:innenfrühstück: Ein selbst gemischtes Müsli aus Haferflocken, Trockenfrüchten, Kokosflocken, Nüssen, Samen und frischem Obst - je nach Verfügbarkeit. Dazu eine Tasse Tee, hin und wieder auch Kaffee. Das schmeckt hervorragend und gibt uns die richtige Energie für einen guten Start in den Tag.

Unser erster Zeltplatz!

Wir radeln im stetigen Wechsel von Asphalt, Schotter und Waschbrettpiste über die ersten Hügel. Mit unseren schwer bepackten Rädern schlittern wir durch so manche Kurve und finden kaum Halt im losen Untergrund. Eine echte Herausforderung für unsere noch untrainierten Wadeln. Dafür beschert uns das Wetter ideale Verhältnisse. Die Sonne scheint und der Wind ist gnädig. Mit jeder Kurve eröffnet sich ein neuer spektakulärer Ausblick. Die Berge in der Ferne rücken immer näher, die Lagunen werden immer türkiser und unsere Wangen immer röter. Trotz mehrerer Schichten Sonnencreme mit Schutzfaktor 50 brennen unsere überhitzten Gesichter am Abend von der starken UV-Strahlung. Das Ozonloch gibt es immer noch, aktuell wird vor besonders strahlungsintensiven Tagen gewarnt. 

Chile ist kein Billigreiseland, schon gar nicht der abgeschiedene Süden. Die Preise sind im Vergleich zur Zeit vor der Pandemie dramatisch gestiegen und da, wo sich viele Tourist:innen tummeln, können sie auch gerne mal richtig überteuert sein. Die Eintrittsgebühr für den Torres del Paine Nationalpark und die dazugehörigen Campingplätze sind so ein Fall. So wollen wir noch eine Nacht vor dem Parkeingang verbringen. Kein leichtes Unterfangen bei all den Stacheldrahtzäunen zu beiden Seiten der Straße. Doch Ferdis gutes Gespür für besonders schöne Zeltplätze führt uns über einen kleinen Pfad durchs Gebüsch. Ein ebenes Stück Wiese auf einem Hügel. Zur Straße hin abgeschottet durch Bäume und Pflanzen. Panoramablick auf die Cordillera del Paine im Sonnenuntergang. Besser geht's kaum! 

Das Wetter am nächsten Tag ist wieder strahlend schön und wir können die Fahrt durch den Nationalpark so richtig genießen. Weil Wildzelten im Park verboten ist, peilen wir einen offiziellen Campingplatz am Pehoé See an. Es ist der 21. Dezember und somit auf der Südhalbkugel der längste Tag des Jahres. Zur Feier der Sommersonnenwende kaufen wir uns eine überteuerte Flasche Wein und spazieren auf einen kleinen Hügel, wo wir einen fantastischen Sonnenuntergang genießen. Und mit fantastisch meine ich wirklich, wirklich fantastisch!

Campingplatz am Pehoé See.

Ein See, dessen Farbe irgendwo zwischen blau und grün schimmert. Darin ein paar kleine Inselchen. Dahinter die einmalige Bergkulisse der Cordillera Paine. Links ein Felsblock mit hängendem Gletscher, rechts die drei Bergspitzen der Cuernos. Granitgrau, fast wie Bleistiftspitzen, für ein paar Minuten zart rot von der untergehenden Sonne beleuchtet. Bei Windstille spiegeln sich die Berge im See. Eine Landschaft wie ein Bob Ross Gemälde. Mit geliehenen Gläsern vom Campingplatz stoßen wir an und versuchen uns dieses unglaubliche Panorama tief einzuprägen. Eine Schönheit, die kein Fernseher der Welt ablichten kann!

Der erste Regen fällt und damit auch die Entscheidung, einen Ruhetag einzulegen und eine weitere Nacht am Lago Pehoé zu verbringen. Der Campingplatz ist gut ausgestattet und bietet kleine Holzunterstände als Wetterschutz für Zelte und Picknickplätze. Im campingplatzeigenen Restaurant gibt es hin und wieder Internetempfang. Bei einer kurzen Wanderung am Nachmittag machen wir erste Bekanntschaft mit dem berühmt berüchtigten patagonischen Wind, der mich fast vom Berg bläst. Nur gut gebückt in Ferdis Windschatten gehend schaffe ich es am Rückweg durch die Engstelle zwischen zwei Hügeln. Ein echter Windkanal. 

Am nächsten Tag geht es weiter in einem großen Bogen auf die andere Seite des Parks. Immer wieder haben wir mit starkem Wind und noch stärkeren Böen zu kämpfen. Die Straße schlängelt sich über Hügel und an türkisblauen Lagunen entlang, die Sonne brennt uns ins Gesicht. 

Nun, da wir viele verschiedene Fortbewegungsmittel kennengelernt haben, weiß ich die Freiheit des Fahrradfahrens umso mehr zu schätzen. Kein dreckiges Busfenster trübt die Sicht. Ich kann jederzeit anhalten und das Panorama rundum aufsaugen, kann die Vögel zwitschern hören, den Wind spüren. Kein Auto, das mich wie eine Kapsel von der Umwelt abschottet. Dieses Ausgesetzt-Sein in der Natur ist oft hart und ungemütlich, gehört für uns aber zum Reisen dazu. Nur so nehmen wir unsere Umgebung als Ganzes wahr und sind möglichst nah am Geschehen dran. Obwohl wir schon über einen Monat unterwegs und mit dem Schiff langsam angereist sind, stellt sich erst jetzt ein Ankommen in Südamerika ein.

Gegen Nachmittag erreichen wir unseren zweiten Campingplatz, der doppelt so teuer wie der erste ist und kaum Infrastruktur bietet. Zur warmen Dusche kann man sich ab 15 Uhr in die Warteschlange einreihen, Strom gibt es keinen, als Aufenthaltsraum dient ein kleines Zelt. Auf Nachfrage bekommen wir einen Radreise-Rabatt und können zwei, schlussendlich sogar drei Nächte zum Preis von einer bleiben. Aufgrund der eher schlechten Wetterprognose verlegen wir die Wanderung zu den berühmten drei Torres um einen Tag und verbringen den 24. Dezember recht unspektakulär am Campingplatz. Weihnachten im Sommer kommt uns komisch vor und Weihnachtsstimmung kommt keine auf. Das ist auch nicht so wichtig. Schade ist nur, dass wir keinerlei Kontakt zu unseren Familien haben. Dafür gönnen wir uns noch einmal eine überteuerte Flasche Wein zum Weihnachtsmenü. Spaghetti mit Sojabolognese. Mehr geben unsere Radtaschen nicht mehr her.

Um den Menschenmassen beim Ansturm auf die Torres zu entgehen, heißt es am kommenden Tag früh aufstehen. Die Wetterprognose war goldrichtig, wir werden mit strahlendem Sonnenschein und wolkenlos blauem Himmel belohnt. Die letzten dreihundert Höhenmeter Geröllhalde bewältigen wir in der prallen Vormittagshitze und schreiten voller Erwartung auf einen einzigartigen Ausblick schnellen Schrittes zum Lago Torres.

Oben angekommen schauen wir uns etwas irritiert an. Der Blick auf den See und die drei dahinter liegenden Türme, die dem Nationalpark seinen Namen geben, haut uns nicht vom Hocker. Die Begeisterung der anderen können wir nicht ganz teilen. Natürlich gibt es auch den einen Felsen, von dem das beste Instagram-Bild geschossen werden muss. Aber das sparen wir uns und machen uns bald wieder an den Abstieg. Die Sonne knallt jetzt beinhart herunter und nicht enden wollende Menschenmassen kommen uns entgegen. Gut, dass wir so früh aufgebrochen sind und so zumindest einen relativ ruhigen Aufstieg hatten.

Muss man gesehen haben: Die berühmten drei Torres.

Nach acht Tagen ohne Einkaufsmöglichkeit sind unsere Vorräte aufgegessen. Wir verlassen den Park und machen uns auf den Weg in den nächsten Ort. Die Witterungsverhältnisse sind richtig patagonisch: Links knallt die Sonne vom Himmel, von Rechts treibt der Seitenwind Regen- und Graupelschauer heran. Die eine Körperhälfte ist wohlig warm und trocken, die andere durchnässt und saukalt. Die Wolken verziehen sich. Fünf Minuten später ist alles vom Wind getrocknet. Und schon kommt der nächste Graupelschauer. Echt verrückt.

Je länger wir radeln, desto ungemütlicher wird es. Der Wind nimmt zu, der Regen auch und ich muss sogar Daunenjacke und Handschuhe anziehen. Einzig die paar überdachten Bushaltestellen am Weg geben uns die Chance auf eine kurze Rast und Auszeit vom ungemütlichen Wetter. Wie gern würde ich mich in eines dieser kleinen Häuschen verkriechen und auf Besserung warten, doch unsere leere Essenstasche zwingt uns zur Weiterfahrt.

Vor einer Bushaltestelle findet Ferdi eine volle Bierdose!

In diesen ersten Tagen des Fahrradfahrens schweifen meine Gedanken immer wieder zurück in den Juni 2019, als wir zu unserer vorherigen großen Tour aufgebrochen sind. Auch damals sind wir "einfach so" auf unsere Drahtesel gestiegen und losgeradelt. Ganz ohne Training und ohne Testfahrt mit schwerem Gepäck. Mir war klar, dass die Reise durch Südamerika eine ganz andere werden wird und uns die klimatischen Bedingungen Patagoniens vor ganz neue Herausforderungen stellen werden.

Trotzdem überrascht es mich, dass ich in den ersten Tagen so oft ans Aufhören denke. Warum bin ich hier? Wieso tun wir uns das an? Was ist der Sinn des Ganzen? Kann Fahrradfahren in Patagonien überhaupt Spaß machen? Meine Erinnerungen an die vielen tausend Kilometer, die ich in meinem Leben bereits mit dem Fahrrad zurückgelegt habe, sagen mir, dass Fahrradfahren auf jeden Fall Spaß macht. Ganz großen Spaß sogar. Ich bin mir sicher, dass wir das auch in Patagonien erleben werden, aber dafür brauchen wir einiges an Durchhaltevermögen. Dieses emotionale Auf und Ab macht mir den Start nicht besonders leicht und die Fotos von Mamas frisch gebackenen Weihnachtskeksen bringen statt Aufmunterung verstärktes Heimweh.

Warum bin ich hier? Wieso tun wir uns das an? Was ist der Sinn des Ganzen?

Ziemlich ausgekühlt und durchnässt kommen wir in Cerro Castillo an und huschen gleich in das einzige Geschäft im Ort. Die argentinische Pampa liegt vor uns. Wir brauchen erneut Proviant für eine ganze Woche. Kein leichtes Unterfangen bei dem bescheidenen Angebot im Mini-Mercado. Frisches Obst und Gemüse suchen wir vergebens, dürften wir aber sowieso nicht mit über die Grenze nehmen. Also erbeuten wir die letzten Packungen Tomatensoße, Pasta, Reis, ein paar Kekse und zahlen 40 Euro für das bisschen Essen und zwei Kaffee zum Aufwärmen. Ganz schön teuer!

Cerro Castillo ist winzig und die Suche nach einem windgeschützten Schlafplatz gestaltet sich schwierig. Der Aufenthaltsraum der Bushaltestelle ist abgesperrt, bei der Gemeinde kann man uns auch nicht weiterhelfen. Erstaunlicherweise besitzt das 160 Seelen Dorf neben Kindergarten, Schule, Park und Gemeindezentrum auch eine eigene, gar nicht so kleine Bibliothek, in der wir uns kurz aufwärmen und das Wi-Fi benützen dürfen. Leider hat auch die Bibliothekarin keinen Übernachtungstipp für uns und so geht die Suche weiter. Irgendwann finden wir eine leerstehende LKW-Garage in der wir unser Zelt aufschlagen. Ich komme kaum zu Schlaf. Der Sturm pfeift wie wild durch alle Löcher und Spalten der Garage, und rüttelt an allem, was nicht niet- und nagelfest ist. Loses Wellblech klappert besonders laut.

Cerro Castillo. In einer leerstehenden Lkw-Garage schlagen wir unser Zelt auf.

Direkt am Ortsrand von Cerro Castillo befindet sich der chilenische Grenzposten, ein paar Kilometer weiter der argentinische. Die Formalitäten sind schnell erledigt. Gerade als wir weiterradeln wollen, kommt ein Touristenbus an. Ein paar junge Leute steigen aus, gehen auf uns zu und bieten uns ihre Empanadas (gefüllte Teigtaschen) an, die sie nicht über die Grenze mitnehmen dürfen. Freudestrahlend nehmen wir das verspätete Weihnachtsgeschenk entgegen, als bereits die nächsten Busreisenden im Anmarsch sind. Ein Mann scheint besonders besorgt zu sein und fragt nach, ob wir genügend zu essen haben. Er schenkt uns ein halbes Sandwich, verschwindet erneut im Bus und kommt mit einem Schoko-Brownie und einer Dose Red Bull zurück. Der Busfahrer bringt Kekse und Muffins. Wir grinsen bis über beide Ohren und freuen uns riesig. Jetzt haben wir sogar eine Banane fürs Frühstücksmüsli und etwas mehr Abwechslung auf unserem einseitigen Speiseplan.

Zweihundert Kilometer sind es bis El Calafate. Zweihundert Kilometer Nichts. Pampa, Pampa, Pampa. Patagonische Steppe bedeutet leere Landschaft, Einsamkeit und Wind. Richtig viel Wind. Das Wetter kommt vom Pazifik. An der Westseite der Anden bleiben die Wolken hängen, Chile hat einige der regenreichsten Regionen weltweit. An der Ostseite der Anden fällt der Wind ab und stürmt beinahe unablässig über die argentinische Pampa Richtung Atlantik. Anfangs haben wir Glück. Die erste Hälfte des Weges bläst der Wind in unsere Richtung.

Solange wir uns im Wind bewegen und keinen Widerstand leisten, ist es komplett still und warm.

Nach etwas Regen kommt die Sonne hervor. Ohne zu treten rasen wir mit 50 Kilometern pro Stunde durch die Ebene und jagen den Schatten der über uns dahinziehenden Wolken hinterher. Solange wir uns im Wind bewegen und keinen Widerstand leisten, ist es komplett still und warm. Man hört und fühlt den Wind kein bisschen. Es ist wie Fliegen! Aber sobald man auch nur leicht an der Bremse zieht, bläst es einem um die Ohren, wird es unerträglich laut und richtig kalt. Kaum macht die Straße einen Schwenk, um einen Hügel zu erklimmen, komme ich nur noch schiebend voran. Zum Mittagessen kauern wir uns in die Ecke einer desolaten Bushaltestelle, die nur bedingt Schutz bietet. Fünfzehn Grad Außentemperatur fühlen sich bei dieser Windstärke eher wie Temperaturen um den Gefrierpunkt an. Mit Handschuhen, Wollmütze und Daunenjacke jausne ich fröstelnd die geschenkt bekommenen Empanadas. Willkommen im patagonischen Sommer!

In der argentinischen Einsamkeit finden Reisende bei der Straßenmeisterei und bei freiwilligen Feuerwehren Unterschlupf. Insbesondere Radler:innen sind auf erstere in Tapi Aike angewiesen. Neben der Tankstelle und der Polizeistation ist es das einzige Gebäude weit und breit. Zelten bei gut 80 km/h Windgeschwindigkeit und keinerlei Schutz durch Bäume oder ähnliches ist sowieso unmöglich. Javier, der freundliche Straßenarbeiter, der hier seinen zweiwöchigen Schichtdienst versieht, bietet uns einen eigenen Schlafraum im Bauwagen mit Bett und Gasheizung an. Auch die warme Dusche, die Küche und den geheizten Aufenthaltsraum dürfen wir mitbenützen. Ein Paradies in der Pampa.

Weil wir uns einen Tag Gegenwind sparen wollen, nehmen wir statt der asphaltierten Hauptstraße eine Abkürzung. Sie ist unter Radreisenden als eine der miesesten Schotterpisten Patagoniens bekannt. Es herrscht so gut wie kein Verkehr, statt Autos begegnen uns jede Menge Tiere. Füchse, Flamingos in kleinen Salzlacken, Guanakos und Nandus, die schreckhaft von der Straße springen wenn wir vorbeiradeln. Einzig die Pumas halten sich versteckt. Zu Mittag finden wir Schutz in einer aufgelassenen Polizeistation, die schon für viele, viele Radler:innen aus aller Welt zur Herberge wurde. Eine richtige "Casa de Ciclista".

Positiv überrascht von der Sauberkeit des verfallenden Hauses beschließen wir kurzerhand Feierabend zu machen und den restlichen Tag mit Entspannen und Reisebericht schreiben zu verbringen. Gerade als wir Abendessen kochen wollen, kommt Steffen zur Tür herein. Der Seitenwind hat ihn kurz zuvor zu Sturz gebracht, daher freut er sich umso mehr über Gesellschaft. Zusammen kochen wir einen riesigen Haufen Nudeln. Nach zu viel Essen, Tee und Keksen fallen wir müde in unsere Schlafsäcke und schlummern noch, als am nächsten Morgen zwei weitere Radler ankommen. Bei einem großen gemeinsamen Frühstück mit allem Essbaren, das wir noch aufbieten können, werden gegenseitig Informationen über die Route ausgetauscht. Die drei anderen kommen, wie alle Radler:innen die wir bisher getroffen haben, aus dem Norden und haben jede Menge nützliche Tipps für uns.

Ein weiteres Mal sind wir auf die Straßenmeisterei angewiesen. Leider ist der diensthabende Arbeiter Reisenden gegenüber nicht so aufgeschlossen. Wir müssen draußen bleiben. Immerhin dürfen wir unsere Wasserflaschen auffüllen und im Schutze des Hauses zelten. Wie von den anderen Reisenden prophezeit, pinkelt uns die Katze ans Zelt. Ich habe mich immer noch nicht an die Windgeräusche gewöhnt und schlafe schlecht. Dennoch stehen wir früh auf. Es heißt, normalerweise sei der Wind morgens nicht ganz so stark und uns steht eine Tagesetappe Gegenwind bevor.

Starker Wind und unendliche Weite.

Der frühe Start hat leider keine Besserung gebracht, der Wind bläst unverändert. Von vorne und schlimmer noch, von der Seite. In jeder Kurve habe ich Angst, von einer Böe erfasst und umgeworfen zu werden. Immer wieder kommen mir die Berichte anderer Patagonienradler:innen ins Gedächtnis, in denen sie von unberechenbaren Windstößen mit voller Wucht auf die Gegenfahrbahn geschleudert werden. Ich bin unsicher und habe das Gefühl, mein Fahrrad nicht unter Kontrolle zu haben. Es rauscht und pfeift in den Ohren, ich habe keine stille Sekunde. Mental fordert mich die Situation fast mehr als physisch.

Wieder einmal ist das Glück auf unserer Seite. Ein brasilianischen Pärchen hält an.

Nach eineinhalb Stunden haben wir knapp zehn Kilometer geschafft, achtzig weitere liegen vor uns. Immer wieder steige ich ab und schiebe, aber auch das ist fast unmöglich. Beim nächsten Aufsteigen passiert es dann tatsächlich und der Wind haut mich samt Fahrrad um. Meine Regenhose hat ein Loch, meine Knie und Hände ein paar Schrammen und wahrscheinlich einige blaue Flecken. Ich bin fertig mit den Nerven. Ferdi setzt sich zu mir an den Straßenrand, wir essen einen Riegel zur Stärkung und überlegen wie es weitergehen soll. Wir wollen das Reisen und die Strecke genießen. Es soll keine tägliche Qual sein, wir müssen niemanden etwas beweisen. Fahrradfahren unter diesen Bedingungen macht für mich einfach keinen Sinn. Also versuchen wir zu trampen. Wieder einmal ist das Glück auf unserer Seite. Ein brasilianischen Pärchen hält an. Unsere Fahrräder finden im Wohnwagen Platz und wir quetschen uns vorne zwischen die beiden Hunde. Die Kilometer bis El Calafate vergehen wie im Flug und vom Wind bekommen wir auch nichts mehr mit. Ganz so, als ob jemand den Standby-Knopf gedrückt hätte. Abgeschottete Autokapsel eben.


Marlen aus Lienz und Ferdi aus Salzburg sind wieder mit ihren Rädern unterwegs. 2019 radelten die beiden in neun Monaten von Lienz aus mehr als 11.000 Kilometer durch 14 Länder bis in den Iran, bevor sie von Covid gestoppt wurden. Die aktuelle Reise führt unser Paar von Patagonien nordwärts quer durch Südamerika. Alle Etappen – auch der bisherigen Reisen – haben wir in einer eigenen Serie „Marlen & Ferdi“ zusammengefasst.

Copyright für alle Reportagen und Bilder: Marlen Schieder.

6 Postings

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vor einem Jahr

Ein bisschen Neid steigt in mir auf würd ich auch gerne machen :-) Wie lässt sich sowas beruflich, Sozialversicherung, Pensionsversicherung, etc. regeln und vereinbaren?

 
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    Senf
    vor einem Jahr

    ... durch die Verwertung sämtlicher Film-und Bildrechte und Tourenbeschreibungen in einschlägigen Magazinen oder Reiseführer.

    Ein wenig wird es wohl die begehrte und ständig angenommene Gastfreundschaft dieser Drittländer sein; ob es diese im heiligen Land Tirol gibt, sei dahingestellt, aber versuchs mal mit einer Übernachtung im Gebüsch, wie von den beiden oben beschrieben (@spurenleser).

     
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      Hannes Schwarzer
      vor einem Jahr

      @senf: Stell' Dir vor, Du nächtigst im Gebüsch und am Morgen steht der Franz T vor Dir und will € 3,- Ortstaxe von Dir! Wäre das erstrebenswert?

       
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      Senf
      vor einem Jahr

      Lieber Hannes, die beiden habe ihren Erzählungen nach die Nacht vor der Nationalpark-Eingangspforte im Gebüsch verbracht, um Nächtigungskosten zu sparen.

      In Tirol wurden derartige Gepflogenheiten für einige Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhanges in den Neunziger für junge Menschen geduldet, weil sie unser Gebirgslandland nach den Schilderungen und Schwärmen ihrer Grosseltern mit ihren Trabis unbedingt bereisen und unbedingt sehen wollten. Sie hatten kein Geld und vielleicht auch die Befürchtung, dass diese Situation nur kurz anhält.

      Auch in meinem Garten wurde zweimal campiert. Kostenlos versteht sich! Freude und Dankbarkeit sah man den begeisterten Leuten in ihren Augen an und die jährliche Neujahrskarte grüsst immer noch!

      Heute macht man sich dafür in Tirol strafbar, ausserdem braucht -auch - die LBB ja laufend Zaster. Aber das weisst du ja selber!

       
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    Enrico Andreas Menozzi
    vor einem Jahr

    Kosten lassen sich gewaltig durch warm shower und couchsurfing drücken , da kann man bei Lokals kostenlos übernachten und das sogar im tiefsten Afrika . Die Leute freuen sich sehr Gastgeber zu sein . Wild Zelten geht natürlich auch , in manchen Ländern ( skandinavien , türkei , arabien wie oman ) ist es erlaubt oder üblich .

    Kosten für Lebensmittel, viele der Fahrrad Weltreisenden können sich in westliche Länder an weggeworfenes beim Supermarkt bedienten . Um so südlicher , bekommt man wiederum Grundnahrungsmittel sehr günstig , Menschen sehr freundlich und laden dich ein .

    Wegen Versicherung / Pension Manche Arbeitgeber stellen dich für länger frei , ein Freund macht das jeden Winter . Du könntest Vollzeit arbeiten 1/2 Jahr , aber Teilzeit angestellt sein für 1 Jahr .

    Hat ein Bekannter eine Firma , könnte er dich Geringfügig einstellen und du versicherst dich für ca75€ selber .

    Viele leben von Mikro spenden, YouTube , Instagram, schicken Postkarten , Merchandising

    Nebenbei schreiben sie ein e-Book was leicht zu vertreiben ist .

    Kenn viele die so seit Jahren unterwegs sind . Früher ging sowas nur durch travel and work , habe ich viele Jahre gemacht , habe einfach gefragt ob sie hilfe brauchen .

     
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spurenleser
vor einem Jahr

... ein toller Bericht ohne aufgeblasenen Heldenepos und unwichtigen Fakten. ...einfach menschlich und nahbar... Was wäre die Welt, wenn mehr wie Marlen & Ferdi den Globus bereisen würden...? So schlecht ist Welt doch nicht, wie sie uns oft medial aufbereitet wird... Menschen helfen Menschen...und Gastfreundschaft gibt es auch jenseits vom heiligen Tirol.

 
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