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In Santiago de Chile begrüßt uns der Smog. Alle Fotos: Marlen & Ferdi

In Santiago de Chile begrüßt uns der Smog. Alle Fotos: Marlen & Ferdi

Abra del Acay: Über den höchsten Pass Argentiniens

Die letzten Kilometer durch Chile und Argentinien sind kräftezehrend und (wortwörtlich) atemberaubend.

Nach unserem längeren Aufenthalt in Bariloche/Argentinien sitzen wir Anfang Mai wieder mal in einem argentinischen Bus. Über Nacht geht es nach Mendoza und von dort weiter bis Santiago de Chile. Die Straße führt hinauf auf den 3200 Meter hohen Los Libertadores Pass und durch einen Tunnel hinüber nach Chile. Für ein paar Sekunden taucht der Aconcagua, der höchste Berg Südamerikas, zwischen den umliegenden Bergen auf. Um ihn nicht zu verpassen, muss man schon ganz genau wissen, wann man aus dem Fenster blickt! Sobald die Grenzformalitäten erledigt sind, winden wir uns viele, viele Kehren hinab nach Chiles Hauptstadt. Millionenstädte sind gar nicht unser Ding. Noch dazu, wenn man zwei große Fahrradkartons und ein paar Fahrradtaschen mit sich herumschleppen muss.

Irgendwie schaffen wir es mit all unserem Gepäck in die Metro und schließlich zu Agustin, unserem Warmshowers Gastgeber. Seine Wohnung in einem typisch amerikanischen Appartementhaus liegt in einem etwas ruhigeren, wohlhabenderen Viertel und dient uns als Ausgangspunkt für unseren Shoppingmarathon. Von einem Outdoorgeschäft zum nächsten, von Shopping Mall zu Shopping Mall. Im Großstadtdschungel fühlen wir uns nicht wohl. Der Verkehr ist laut, die Atmosphäre in den Einkaufszentren unnatürlich und menschenfeindlich, die Luft voll Smog und die vergletscherten Berge rund um Santiago bekommen wir nur einmal, an einem klaren Tag zu Gesicht. Solche Metropolen sind für mich immer seltsame Orte. Man bekommt gar nicht so richtig mit, in welchem Land man eigentlich ist. Die immer gleichen Fastfood-Ketten und Modegeschäfte. Und plötzlich finden wir uns bei veganen Fleischbällchen im Ikea Restaurant wieder. Was für ein Kontrast! Vor ein paar Tagen saßen wir noch in den einsamen Bergen am Lagerfeuer.

Wir sind froh, als wir Santiago verlassen und den Zug nach Rancagua nehmen, wo wir bereits in der Choike Werkstatt erwartet werden. Auf der Suche nach kleineren, leichteren Packtaschen sind wir auf diesen chilenischen Hersteller gestoßen und wurden prompt in die Werkstatt eingeladen. Israel hat Choike 2015 gemeinsam mit seinem Bruder gegründet und sich auf die Herstellung von hochwertigen Bikepacking Taschen spezialisiert. Wir sind begeistert von der Professionalität und der tollen Ausstattung der Werkstatt. Ein Raum voller Nähmaschinen, sieben an der Zahl, mit unterschiedlichen Eigenschaften. Ein Raum für den Zuschnitt und im Kämmerchen nebenan ein Gerät zum Versiegeln von Nähten, um die Taschen wasserdicht zu machen. Dann noch ein großer Lasercutter, der den Zuschneideprozess erleichtert und beschleunigt. Und nicht zu vergessen der Lagerraum, in dem sich jede Menge Kartons mit unzähligen Steckverschlüssen, Bändern, Reißverschlüssen und anderem nützlichem Kleinzeug stapeln.

Wir sind die ersten Gäste, die in der Werkstatt hausen. Dafür haben sie extra einen kleinen Lagerraum ausgeräumt und ein Bett hineingestellt. Zehn Tage bleiben wir bei Israel. Oft sitzen wir bis nach Mitternacht an den Nähmaschinen und arbeiten an neuen Taschen. Israel ist ein kreativer Geist. Sein Kopf ist voller Ideen, die dann sogleich umgesetzt werden. Wir entwerfen gemeinsam eine neue Lenkertasche für mich, die inzwischen sogar ins Sortiment aufgenommen wurde.

Ich darf mich an den Stoffresten bedienen, allesamt hochqualitative Outdoormaterialien, und tüftle an weiteren kleinen Taschen und allerlei Verbesserungen unserer Ausrüstung. Wie oft habe ich mich Zuhause an meiner Nähmaschine abgeplagt und welch eine Freude überkommt mich hier, wenn ich von einer Industrienähmaschine zur nächsten springe und selbst das Verarbeiten von dicken Stoffen keinerlei Mühe erfordert. Ich bekomme eine an mein Fahrrad angepasste Rahmentasche und wir dürfen den kompletten Prozess vom Design bis zum fertigen Produkt miterleben und mitgestalten. Jetzt sind unsere Räder bestens neu ausgestattet, leichter und mobiler, bereit für neue wilde Bergabenteuer.

Nach einer Woche werde ich krank. In der Werkstatt ist es kalt, auch die Dusche. Wir schauen uns nach einer anderen Bleibe um und werden auf Warmshowers fündig. Nicolas lädt uns ums Eck zu sich nach Hause ein und wir machen es uns in seinem Wohnzimmer gemütlich. Leider ist es auch bei Nico kalt, wenn nicht gerade der mit Kerosin beheizte Strahler im Zimmer steht. Generell sind die kleinen Häuschen hier meist sehr dunkel und kalt. Heizungen gibt es keine und die kleinen, undichten Fenster spenden wenig Licht. Umso netter ist unser Gastgeber und wir dürfen länger bleiben. Ich brauche eine ganze Woche um mich zu erholen und fit für die Weiterreise zu werden.

Ganz abgesehen von meinem Gesundheitszustand hätten wir auch gar nicht früher weiter können. Der Pass zwischen Chile und Argentinien war tagelang wegen Schneefall und Stürmen gesperrt. Chile liegt fast so abgeschieden wie eine Insel. Im Norden die Atacama Wüste, im Osten die meist über 4000 Meter hohen Andenpässe hinüber nach Argentinien, die oft gesperrt und teilweise komplett geschlossen sind. Weit unten im Süden die Pazifikfjorde und das beinahe ewige Eis unzähliger Gletscher. Auf dem Landweg ist Chile somit relativ schwer erreichbar. Daher verwundert es auch nicht, dass Lebensmittelimporte strengstens kontrolliert werden. Ist doch das Land bisher aufgrund seiner Lage von vielen Pflanzenkrankheiten und Schädlingen verschont geblieben. Insbesondere der Weinanbau profitiert davon enorm.  

Als der Pass wieder passierbar ist, verlassen wir Rancagua. Doch in Santiago sagt man uns, der gebuchte Nachtbus sei zu voll, habe keinen Platz für unsere Räder. Wir müssen auf den nächsten Tag umbuchen. Glücklicherweise können wir ganz spontan bei den Schwiegereltern von Israel übernachten. Sie nehmen uns wie ihre eigenen Kinder auf und kümmern sich rührend um uns. Frühmorgens bekomme ich noch extra einen wohltuenden Ingwer-Zitronen Tee mit Honig gegen meinen hartnäckigen Husten und eine Jause mit auf den Weg.

Wir sind schon vor allen anderen am Busbahnhof und warten. Mit der Zeit kommen mehr und mehr Menschen und als der Bus endlich vorfährt, hat sich eine lange Schlange gebildet. Obwohl wir als Erste da waren, dürfen wir erst als Letzte einsteigen. Der Buschauffeur will uns glauben lassen, dass auch dieses Mal kein Platz für unsere Räder bleibt. Doch so schnell geben wir uns nicht geschlagen und warten geduldig bis das letzte Gepäckstück verladen ist. Die zahllosen weiteren Passagiere und Gepäckstücke, die uns der Buschauffeur prophezeit hat, bleiben nun doch aus und es findet sich noch ein Plätzchen für unsere großen Fahrradkartons. Wir sind froh, als sich die Klappe zum Gepäckraum endlich schließt und lehnen uns in unseren Sitzen zurück. Adios Großstadt!

Mit dem Bus über den Paso Los Libertadores geht es nach Mendoza.

In Mendoza kaufen wir uns erneut Bustickets, um ein gutes Stück weiter in den Norden zu kommen. Uns war schon lange klar, dass wir aufgrund der riesigen Distanzen in Argentinien nicht alles radeln können. Außerdem steht der Winter in Patagonien vor der Tür. Von Mendoza nach San Miguel de Tucumán müssen wir unsere Fahrräder mit dem Paketservice der Busgesellschaft schicken. Wir sind skeptisch, hatten wir doch am Anfang unserer Reise, als wir unsere Räder in den Süden Argentiniens verschicken mussten, eine Woche auf diese gewartet. Doch diesmal versichert man uns, dass sie noch in der selben Nacht nach Tucumán gebracht werden.

Während wir auf den Nachtbus warten, fällt uns auf, dass eine unserer neuen Taschen fehlt. Habe ich die neue Lenkerrolle mit einem unserer Daunenschlafsäcke und den warmen Daunenjacken beim Aussteigen im Bus liegen lassen oder ist sie womöglich beim Grenzübergang abhanden gekommen? Wir wissen es nicht. Ferdi versucht den Bus zu finden, fragt beim Busunternehmen nach und probiert alles, um unsere Tasche zurückzubekommen. Leider vergeblich. Mit nur einem Schlafsack und ohne unsere warmen Jacken können wir unmöglich weiterreisen. Gerade jetzt wo wir immer höher hinauf in die Berge fahren, müssen wir mit sehr kalten Temperaturen rechnen. 

Bevor es hoch hinauf geht verbringen wir ein paar Tage in San Miguel de Tucumán/Argentinien.

In San Miguel de Tucumán kommen wir bei einem netten jungen Argentinier namens Mati unter. Er erinnert ein bisschen an unseren Gastgeber in Bandar Abbas im Iran. Wir treffen ihn in der Arbeit, wo er uns den Schlüssel für seine Wohnung überreicht. Diese überlässt er uns samt seinem Bett, während er bei seiner Freundin unterkommt. Dafür kümmern wir uns ums Futter und Katzenklo.

Wir waren voller Vorfreude, endlich wieder auf dem Radl zu sitzen, aber stattdessen müssen wir erneut in einer Stadt verweilen und uns auf die schwierige Suche nach neuen Daunenjacken und einem warmen Schlafsack machen. Wir wissen, wie schwer es in Argentinien ist, gute Outdoor Ausrüstung zu bekommen. Genau aus dem Grund sind wir nach Santiago hinübergefahren. Was für ein Pech aber auch! Hohe Importzölle, kaum Eigenproduktion und eine Inflation, die mittlerweile auf 140 Prozent gestiegen ist. Argentiniens Wirtschaft liegt darnieder. Und das schon sehr sehr lange. Nachdem wir alle Geschäfte in Tucumán abgeklappert haben, wird uns klar, dass wir hier nicht fündig werden. 

Wir bekommen den Tipp, uns auf einer „Feria Americana“ umzuschauen. Auf diesen Märkten wird Second-Hand Kleidung aus Europa verkauft. Nachdem viele Länder Afrikas einen Annahmestopp für Altkleider aus Europa verhängt haben, da sie den lokalen Textilmarkt zerstören, werden diese in Containern nach Südamerika verschifft, dort weiter verkauft oder seit neuestem einfach in der chilenischen Atacama Wüste entsorgt. Als wir Bilder von den erschreckenden Müllbergen in der Wüste sehen, wird uns wieder mal bewusst, wie viel Umweltverschmutzung allein durch die Textilbranche verursacht wird. Schließlich finden wir zwei passende Daunenjacken zu einem sehr günstigen Preis, die uns zumindest vorübergehend gute Dienste erweisen werden. Einen Schlafsack dürfen wir uns auch für ein paar Tage von einer Warmshowers Gastgeberin ausborgen und so können wir endlich wieder in die Pedale treten. 

Auf einer "Feria Americana" werden wir fündig.

Durch die Straßen Tucumáns zu radeln ist nicht immer spaßig. Der viele Verkehr und dessen Abgase machen es uns Radler:innen schwer. In der ganzen Stadt gibt es keine Radwege. Zumindest noch nicht. Vor ein paar Jahren haben sich fahrradbegeisterte Menschen zusammen getan und einen Verein gegründet. Mehrmals im Jahr organisieren sie eine Fahrrad Demo, eine sogenannte Critical Mass und wollen auf die Probleme im Straßenverkehr aufmerksam machen. Fahrrad-Reparatur-Workshops und andere Veranstaltungen sollen mehr Menschen auf's Radl bringen und ihnen die Vorteile eines nachhaltigen Fortbewegungsmittels zeigen.

Das Potential ist groß, die Radszene in Tucumán wächst, viele steigen auf's Rennrad oder Mountainbike, um die Berge in der Umgebung zu entdecken. Unseren letzten Abend in der Stadt verbringen wir bei Freundinnen von Mati, die uns für eine Nacht in ihrer Wohngemeinschaft aufgenommen haben. Pitu, eine der jungen Frauen, sitzt selbst täglich auf dem Fahrrad und ist Teil des Kernteams im Fahrradverein Tucumáns. Bei einem Glas Fernet Cola, dem wohl beliebtesten Drink Argentiniens, tauschen wir uns über unser Engagement für eine bessere Fahrradinfrastruktur aus und beleuchten ganz allgemein die unterschiedlichen Lebensweisen zwischen Europa und Südamerika.

Rund um Tucumán werden weltweit am meisten Zitronen angebaut. Viele davon plumpsen von überfüllten Lastern und landen am Straßenrand. Wir freuen uns ja immer, wenn wir Gemüse oder Obst aufsammeln können, aber von den Zitronen haben wir schnell genug. Von nun an geht es aufwärts. Wir machen uns auf den Weg hinauf auf den Altiplano, jener wunderschönen, einsamen, kargen, hügelig gewellten Hochebene, die sich von Nordargentinien über Chile und Bolivien bis nach Peru erstreckt und bis weit über 4000 Meter hoch liegt. Doch zuerst geht es durch einen dichten, feuchten Nebelwald. So viel Grün! Oft aber auch nur Weiß, da wir komplett vom Nebel eingehüllt sind.

Oft sind wir komplett vom Nebel eingehüllt.
Bevor wir die großen Kakteen erblicken...
So viel Grün!
...haben wir kleine Kakteen gesehen.

Mit der Baumgrenze ändern sich Klima und Landschaft schlagartig. Es ist heiß und trocken, beim Atmen kratzt es im Hals. Wir überqueren unseren ersten 3000er Pass, staunen über riesige Kakteen am Straßenrand und radeln durch eine der bekanntesten Weingegenden Argentiniens nach Cafayate. Ein starker Kontrast zu dem, was wir bisher von dem Land gesehen haben. Überhaupt haben wir seit San Miguel de Tucumán einen ziemlichen Wandel bemerkt. Für uns ist es jener Ort, an dem wir uns zum ersten Mal auf dieser Reise wie in Südamerika fühlen. Menschen auf den Straßen, kleine Imbissstände überall, Gesichter die mehr bolivianisch als europäisch aussehen, alles ein bisschen chaotischer und lebendiger. Nach sechs Monaten in Südamerika haben wir erst jetzt das Gefühl, tatsächlich in Südamerika angekommen zu sein. 

Cafayate wirkt auf den ersten Blick sehr touristisch. Aber beim zweiten Hinsehen finden wir Gefallen daran und wir treffen auf zwei andere Radreisende. Steve, Holländer und US-Amerikaner, und Luca, ein Italiener, der in Innsbruck lebt, sind wie wir gen Norden unterwegs, leider jedoch auf einer anderen Route. Spontan beschließen wir einen weiteren Tag im Ort zu bleiben und verbringen einen sehr feinen Abend bei einer gemütlichen Grillerei und ein paar Gläsern Wein im Innenhof unseres Hostels.

Bevor es weiter geht, besorgen wir uns zum ersten Mal Kokablätter, die hier in den nördlichen Provinzen Argentiniens vollkommen legal verkauft werden. Gekaut oder als Tee aufgebrüht sollen sie gegen die Höhenkrankheit helfen. Immer wieder fallen uns die besonders dicken Backen der Einheimischen auf, die immer wieder mit frischen Kokablättern gefüllt werden. Anders als Kokain haben Kokablätter keine berauschende Wirkung und machen nicht süchtig. Für die Einheimischen in diesen höheren Regionen sind sie aus dem Alltag nicht weg zu denken, wie für so manch anderen die Tasse Kaffee zum Frühstück. Ausgestattet mit Kokablättern und einem neuen Schlafsack, den wir in Chile bestellt haben und der es mit Hilfe eines Freundes über die Grenze geschafft hat, sind wir bereit für den Aufstieg.

Wir sind bestens ausgestattet und radeln weiter durch malerische Landschaften.

Die Kakteen werden immer größer, die Berge immer höher. Der Asphalt endet kurz nach Cafayate, die Tage werden kälter, die Landschaft immer spektakulärer. Bizarre Felsformationen türmen sich vor und um uns herum auf. Schlechte Schotterpisten verlangsamen unser Vorankommen. Schon länger sind wir mit Dan in Kontakt, dem Briten, den wir in El Bolson getroffen haben. Gemeinsam haben wir es uns zum Ziel gesetzt den höchsten Pass des Landes zu radeln. Dem Abra del Acay fehlen nur wenige Meter auf die 5000er Marke. Zu dritt geht es langsam immer höher durch die spektakuläre Landschaft.

Wir wollen uns gut akklimatisieren und radeln langsam immer höher. Nicht mehr als fünf- bis siebenhundert Höhenmeter zwischen zwei Schlafplätzen. Wir machen nur wenige Kilometer pro Tag, nehmen uns genug Zeit für den Anstieg. Die dünner werdende Luft, die für uns noch ungewohnt ist, und die Schotterpiste erlauben auch nicht viel mehr. Auf 4000 Metern kommen wir am letzten Haus vorbei. Hier wohnt Flavia ganz allein mit ihren zwei Kindern und ein paar Lamas. Wir fragen uns, ob die Kinder überhaupt in die Schule gehen. Die Frau hat einen Tisch voller selbst gestrickter Souvenirs neben der Straße aufgebaut und lebt von den wenigen Verkäufen. Hin und wieder kocht sie auch für hungrige Radler:innen. Als Brennstoff dient Lama Dung, den es hier reichlich gibt. Ich kaufe ihr ein kleines, gefilztes Lama ab und hänge es zu meinen anderen Glücksbringern an den Lenker. Wir wollen noch ein kleines Stück weiter, noch ein paar Höhenmeter mehr, um am nächsten Tag weniger vor uns zu haben. 

Die Nacht auf 4200 Metern war richtig kalt, doch in unseren warmen Schlafsäcken haben wir es trotz der Minusgrade kuschelig und können gut schlafen. Am meisten spüren wir die Kälte abends beim Kochen, besonders in den Fingern und Zehen. Und wenn die Zehen einmal kalt sind, werden sie so schnell nicht wieder warm. Da hilft nur eine Flasche mit heißem Wasser, die ich mir zu den Füßen in den Schlafsack lege. Einfach herrlich! Wir haben einen langen Tag vor uns und können nicht warten bis die Sonne unser Zelt erreicht. Also voll eingepackt in die Daunenjacke aufs Fahrrad.

Die Luft ist kalt und dünn, das Atmen fällt schwer. Gut siebenhundert Höhenmeter sind es noch bis zur Passhöhe. Durch die niedrigen Temperaturen sind die Bäche gefroren und wir können unsere Räder vorsichtig übers Eis schieben, statt wie am Tag vorher durch eiskalte Bäche zu waten. Die Schotterpiste ist gut befahrbar und bis auf einige steile Abschnitte in den Kurven schaffe ich es, alles zu radeln. Unsere Wangen sind mit Kokablättern gefüllt. Dennoch müssen wir alle paar hundert Meter kurz absteigen und eine Verschnaufpause einlegen. Die Höhe macht sich nicht nur beim Atmen, sondern auch in den Muskeln bemerkbar.

Mir fehlt die Kraft in den Beinen. Jedes Mal, wenn ich wieder aufs Fahrrad steige und anfange zu treten, muss ich mich richtig anstrengen, um überhaupt vom Fleck zu kommen. In den vielen Pausen schaue ich mich um, mache mir bewusst wo ich gerade bin. Ein schöner schneebedeckter Berg, der vor ein paar Tagen noch in weiter Ferne war, ist nun ganz nahe. Wir sind schon ein Stück höher als der Mont Blanc! Vicuñas, deren Fell noch feiner ist als das der Alpakas, grasen auf den Steilhängen um uns herum. Keine Autos weit und breit, auch sonst ist niemand zu sehen. Wir sind ganz allein. Mittlerweile ist es wärmer geworden. Bald haben wir es geschafft, nur mehr drei Kehren bis zum Pass. 

Oben ist es windig. Wir ziehen uns warm an und machen ein paar schnelle Fotos. Ich bin überglücklich, den Tränen nahe. Mit dem Fahrrad auf fast 5000 Metern! Vor ein paar Tagen war ich mir noch unsicher, ob ich dieser Herausforderung gewachsen bin. Aber wie so oft in meinem Leben merke ich: Was ich mir fest vornehme, schaffe ich auch.

Geschafft!
Mit dem Fahrrad auf fast 5000 Metern.

Die Abfahrt ist sehr holprig und die Landschaft viel weniger spektakulär, als auf der anderen Seite. Unten gönnen wir uns endlich eine Pause und eine kräftige Mittagsjause. Für eine lange Rast bleibt leider keine Zeit. Der nächste Ort ist noch 45 Kilometer entfernt und die Straße dorthin in einem miserablen Zustand. Meistens bringen mich solche Wellblechpisten zur Verzweiflung, aber dieses Mal beweise ich Kampfgeist und radle Ferdi und Dan davon. Ich staune selbst welche Reserven noch in mir stecken.

In San Antonio de los Cobres, einer unansehnlichen Bergbaustadt, suchen wir uns ein Dreibettzimmer. Die Dusche ist heiß, der Raum sehr kalt. Ein kleiner Heizstrahler beschert uns warme, aber extrem trockene Raumluft. Seit Tagen schon plagt mich ein nerviger Husten, besonders in der Früh. Die Heizungsluft trägt nicht zur Besserung bei. Doch nicht nur der Husten strengt an. Das Reisen als Paar ist nicht immer einfach. Immer wieder diskutieren wir über Kleinigkeiten und die ohnehin schon anstrengenden Tage werden damit zu einer noch größeren Herausforderung. Aus dem Weg gehen kann man sich auch schlecht und manchmal gehen die Emotionen mit einem durch. Leider teilt man mit dem Partner nicht nur die schönen Momente.

Während Ferdi und ich über die weitere Route nachdenken und wegen meines Angeschlagenseins nicht wissen, ob ich den nächsten 4500er  Pass schaffe, ist Dan bereits weiter geradelt. Nach längerem Hin und Her entscheiden wir uns doch für den Weg durch die Berge und radeln am späten Nachmittag aus der Stadt. Am Morgen darauf sieht unser Vorhaben nicht gerade vielversprechend aus. Ein Lastwagen nach dem anderen schleppt sich über die kurvige Passstraße und wirbelt unheimlich viel Sand auf. Ich ziehe mir mein Schlauchtuch über Mund und Nase, um nicht den vielen Staub einatmen zu müssen. Das erschwert das Luftholen, das auf über 4000 Metern eh schon schwierig genug ist, zusätzlich.

Der Schwerverkehr von San Antonio de los Cobres Richtung Chile.

Wir merken bald, dass das Radeln bei dem vielen Verkehr keinen Sinn macht. Also strecken wir wieder mal den Daumen raus und werden schon bald von einem kleinen LKW mitgenommen. Der freundliche Paraguayaner fährt über die Grenze nach Chile, ist gleich alt wie Ferdi und hat neun Kinder von fünf Frauen. Patchwork Familien sind hier keine Seltenheit. Seine Backen sind voller Kokablätter, er trinkt den letzten Schluck Bier und wirft die leere Dose aus dem Fenster. Die Gegend ist reich an Bodenschätzen und das hohe Verkehrsaufkommen den Minen in der Gegend geschuldet. Wir sind froh, in der staubgeschützten Fahrerkabine zu sitzen und schauen zufrieden aus dem Fenster. Bei der ersten Abzweigung steigen wir aus. Von dort müssen wir mit dem Fahrrad weiter. Die meisten Lastwagen fahren direkt über den nahen Paso Sico nach Chile. Doch dieser Grenzübergang ist seit der Pandemie nur für kommerzielle Transporte geöffnet und so müssen wir ein gutes Stück weiter in den Norden zum nächsten Pass radeln.

Die Weiterfahrt ist alles andere als ein Honigschlecken. Sehr sandig und so windig, dass ich streckenweise schieben muss. Auf den letzten Kilometern nach Catua ist es bereits dunkel und richtig kalt. Eigentlich sollte auch Dan heute hier angekommen sein, aber von ihm fehlt jede Spur. Das Dorf wirkt wie ausgestorben. Alles finster und verlassen. Irgendwo sehen wir Licht und klopfen an. Auch wenn wir von außen keinen Hinweis darauf erkennen können, haben wir tatsächlich ein Hostel gefunden. Catua ist irgendwie anders, die Bewohner:innen sind besonders herzlich. Als wir untertags den Ort erkunden, werden wir freundlichst begrüßt und willkommen geheißen. Das breite, zahnlose Grinsen einer Ladenbesitzerin bleibt uns noch lange in Erinnerung. Ebenso die zahllosen Fußballfelder, vom Kunstrasen bis zur Schafweide, die vermutlich die Anzahl an Kindern im Ort übertreffen. Argentinien ist eben eine echte Fußballnation.

Über eine sehr einsame, aber wunderschöne Straße radeln wir weiter Richtung Norden. Ich habe eine sehr schlechte Nacht hinter mir, konnte kaum schlafen. Die Höhenluft plagt mich. Immer wieder bin ich aus dem Schlaf hochgeschreckt, in der Panik keine Luft zu bekommen. Dementsprechend wenig erholt kämpfe ich mich Höhenmeter um Höhenmeter weiter bergauf. Ein einziges Auto kommt vorbei und Ferdi zögert nicht lange und bittet um eine Mitfahrgelegenheit. Irgendwie tut es mir Leid, schon wieder in ein Fahrzeug zu steigen und diese schöne Strecke nicht zu radeln, aber meine Erschöpfung ist zu groß. Die zwei Männer sind sehr hilfsbereit und es dauert keine zwei Minuten bis die Fahrräder sicher auf der Ladefläche des Pick-ups verstaut sind und wir es uns auf der Rückbank gemütlich gemacht haben. Die beiden arbeiten für die Gemeinde und bringen Mittagessen zur Unterstützung der Straßenblockaden an der Hauptstraße.  

Seit ein paar Wochen gibt es Proteste rund um Salta und San Salvador de Jujuy. Junge Lehrerinnen, die viel zu wenig verdienen und sich ihr Leben kaum noch leisten können, haben die Demonstrationen angefangen. Vor allem hier im Norden Argentiniens sind die Gehälter der Frauen sehr niedrig und sie kämpfen um ihre Existenz. Ein weiteres Problem ist die Ausbeutung der Rohstoffe und die durch den Lithiumabbau verursachte Umweltverschmutzung. Die ausländischen Bergbaufirmen scheren sich nicht um Gesetze und Umweltauflagen, die Menschen vor Ort müssen mit dem verunreinigten Grundwasser leben. Eines der vielen traurigen Beispiele, wie der Globale Süden leider immer noch von uns reichen Staaten ausgebeutet wird.  

 An der großen Hauptstraße angekommen, laden wir unsere Fahrräder ab und radeln vollkommen einsam die gut ausgebaute Asphaltstraße gen Westen Richtung Chile. Sie überquert auf 4800 Metern den Paso Jama und ist bekannt für sehr starke Winde und einer totalen Einöde. Nicht wirklich zum Radfahren und Zelten geeignet. Besonders in unserer Fahrtrichtung gegen den Wind. Nach einer halben Stunde hören wir Motorengeräusche. Ein paar Fahrzeuge konnten die Blockaden passieren. Wir haben Glück, gleich der erste LKW nimmt uns mit. Die Ladefläche des Autotransporters ist leer. So einfach hatten wir es noch nie! Die Räder nur ein wenig hinaufheben und hinlegen. Wir müssen sie nicht mal festzurren, der Fahrer versichert uns, dass da nix verrutscht.

Die einsame Straße über den Paso Jama die wir mit dem LKW fahren.

Wir erfahren, dass sie hier oben auf der abgelegenen Straße immer im Konvoi fahren, mindestens zu zweit. Zur Sicherheit, falls mal was passiert. Im Winter ist die Fahrbahn oft vereist und bei einem Unfall kann es dauern, bis das nächste Fahrzeug vorbeikommt. Handyempfang gibt es nicht und eine Nacht auf fast 5000 Metern bei Minusgraden und starken Winden ist schwer auszuhalten. Auf den letzten vierzig Kilometern geht es über 2000 Höhenmeter schnurgerade hinunter nach San Pedro de Atacama. Hier herunten haben wir wieder Luft zum Atmen. Wir suchen uns ein Hostel für die nächsten Tage. Zeit zum Entspannen und uns auf das nächste große Abenteuer vorzubereiten. Nach einem halben Jahr in Argentinien und Chile wartet das nächste Land auf uns!  

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Nach einer Verschnaufpause radeln wir an das Ende der Carretera Austral und brechen auf zu neuen Ufern. 

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Ein Posting

so ist es vielleicht
vor 5 Monaten

Sehr lebendig geschrieben, sodass man gar nimmer aufhören mag zu lesen. Für mich wär so ein Abenteuer zwar nichts, aber allein das geistige Eintauchen in diese Welt erzeugt Sehsüchte und Eindrücke, wie einzigartig diese Gegend der Erde wohl sein muss! Passt weiterhin auf euch auf, alles Gute!!!

 
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