Ya,
David!
Ya, David!
Zivildiener David Ragger betreut Kinder aus schwierigen Verhältnissen in Ecuador, spricht mittlerweile fließend Spanisch, wurde zum Vegetarier und hat auch sonst viel zu erzählen.

Mindo ist ein Dorf mit 3 000 Einwohnern, das mitten im ecuadorianischen subtropischen Nebelwald in den westlichen Ausläufern der Anden liegt. Bekannt für seine Artenvielfalt, vor allem im Bereich der Avifauna mit über 450 Vogelarten, ist Mindo ein beliebtes Reiseziel in Ecuador. In diesem Dorf leiste ich gerade für ein Jahr bei der Fundación Salem, die Nachmittagsbetreuung für etwa 40 Kinder aus dem Dorf anbietet, meinen Zivilersatzdienst.

Ich stehe heute früher auf als sonst, weil ich seit einiger Zeit einer Arbeitskollegin, die die Chance hat, als Freiwillige nach Deutschland zu gehen, und der Direktorin des Projekts dienstags und donnerstags Deutschunterricht gebe. Danach beginnt der Arbeitstag mit der täglichen kurzen Teambesprechung, in der wir gemeinsam über die Tätigkeiten des heutigen Tages reden. Wir, das sind Sulema und Andreas, die das Projekt leiten, zwei Tutoras (Betreuerinnen) aus Ecuador und vier Freiwillige aus Österreich und Deutschland, von denen drei, darunter ich, auch im Projekt wohnen. Einer der beiden Freiwilligen ist Mauricio, der wie ich aus Osttirol stammt. Wir beide haben uns zufällig beim gleichen Projekt beworben. Außerdem arbeiten in Salem drei weitere Tutoras, die nur am Nachmittag kommen, der Gärtner und die Köchin.

Nach der Teambesprechung gehe ich zusammen mit Paula, die meine Gruppe leitet, in unsere Aula. Mit den jüngsten Kindern, die zwischen vier und acht Jahre alt sind, arbeiten wir dort mit Montessori- und anderem Alternativmaterial. Wir haben Lernmaterialien zu Mathematik, zum Lesen- und Schreibenlernen und zur Konzentrationsfähigkeit. Wenn am Vormittag die Zeit dazu ist, bringt mir Paula nach und nach bei, wie man mit den Kindern mit diesen Materialien richtig arbeitet. Vieles davon ist neu für mich. Schwer fiel mir anfangs zum Beispiel der Grundsatz, man solle die Fehler der Kinder nicht ausbessern. Und auch wenn ich mittlerweile Spanisch fließend spreche, ist es gar nicht so einfach, mit Kindern in einer Sprache lesen zu lernen, die nicht meine Muttersprache ist. Manchmal basteln Paula und ich auch neues Material. Heute gestalten wir zum Beispiel Schilder, auf denen die Namen von Dingen stehen, die auf unserem Gelände zu finden sind. Die Kinder müssen lesen, was darauf steht und das Schild dann dieser Sache umhängen.

Unser Dorf liegt im subtropischen Nebelwald in den westlichen Ausläufern der Anden.

Nachdem das neue Material fertig und in unserer Aula verräumt ist, gehe ich in den Comedor, den überdachten Raum im Freien, in dem vier Esstische stehen. Jeden Tag wird der Comedor von den Freiwilligen für das Mittagessen vorbereitet. Jedes der Kinder hat seinen eigenen Platz auf einem der Tische, auf den wir sein Individual, ein Tisch-Set mit Foto und Zeichnungen des jeweiligen Kindes, bereitlegen.

Um kurz nach zwölf gibt es Mittagessen. Es gibt Kartoffelsuppe, den in Ecuador beinahe obligatorischen Reis, Kichererbseneintopf, Tomaten- und Karottensalat und Maracujasaft, außerdem panierten Brokkoli, der den meisten Kindern zu grün ist. Die ganze Salem-Stiftung und somit auch das Projekt in Mindo ist vegetarisch und ich, seit ich hier bin, auch.

Noch während das Team beim Essen ist, kommen die ersten Kinder von der Schule. Wir Betreuer teilen uns die Aufgaben, die beim Mittagessen anfallen: die Aufsicht im Comedor und in der Küche, wo sich die Kinder selbst das Essen nehmen und danach ihr Geschirr abwaschen. Ich bin diese Woche bei den Zahnbürsten eingeteilt. Jedes der Kinder hat eine Zahnbürste in Salem, die ich ihnen gebe, nachdem sie gegessen haben. „Ya, David? Ya, David?“ rufen sie mir zu, um zu fragen, ob die zwei Minuten schon um sind und sie endlich spielen gehen können. An zwei Tagen der Woche geht einer der Freiwilligen mit ein paar der Kinder zu dieser Zeit in die nahegelegene Cancha, einen überdachten Sportplatz, zum Rollschuhfahren.

In der Salem-Stiftung wird nur vegetarisches Essen serviert. Den Kindern schmeckt’s.

Um zwei ist es dann Zeit für die Tutoría, in der alle Kinder in die nach Alter eingeteilten Gruppen gehen und entweder ihre Hausaufgaben machen oder mit Lernmaterial arbeiten. Die Kinder, die gerade Tischfußball spielen, muss ich mehrmals auffordern, in ihre Aula zu gehen. Wenn sie erstmal an den Fußballtisch kommen, lösen sie sich nur ungerne wieder davon.

In meiner Gruppe sind, je nachdem, wie viele der Kinder Hausaufgaben machen müssen, zwischen fünf und zehn Kinder. Wir beginnen, wie jeden Tag, die Tutoría mit einem Spiel. Heute spielen wir auf einem Gelände, das kurz vor meiner Ankunft zugekauft wurde, rescate de la bandera, ein Spiel, bei dem man die „Flagge“ des anderen Teams erobern muss. Die Kinder haben Spaß daran und fordern immer wieder eine neue Runde. Schließlich gehen wir aber trotzdem in unsere Aula. Dort machen wir einen Sitzkreis und singen das tägliche Begrüßungslied, bei dem jeder gefragt wird, wie es ihm heute geht. Danach ist der silencio an der Reihe, eine Übung, bei der wir versuchen, eine Minute lang still zu sein, und danach die Kinder fragen, was sie gehört haben. Das mit der Stille funktioniert wie immer eher weniger als mehr, aber einige der Kinder erzählen mit Freude von den Vögeln und den Schritten und Stimmen im Raum über uns, die sie gehört haben.

Anschließend fangen die Kinder an, mit dem Material zu arbeiten. Eines darf die Frucht, heute eine Banane, aufschneiden und danach mit allen teilen. Es dauert wie immer etwas länger, bis sich die Kinder darauf einigen, wer dieses Privileg heute genießen soll. Eine Gruppe von vier Mädchen nimmt das Material, das Paula und ich am Vormittag gemacht haben. Sie teilen sich auf und hängen Schilder in unserer Aula, im Garten und in der Küche auf, wobei die größeren denen, die noch nicht lesen können, helfen.

Rollschuhfahren in der nahegelegenen Cancha steht regelmäßig auf dem Stundenplan der Kinder.

Es ist alles in allem ein sehr ruhiger Tag. An vielen anderen Tagen erschwert das Verhalten der Kinder die Arbeit mit ihnen. Fast alle Kinder, die hier in Salem sind, kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen. Viele leben mit nur einem Elternteil, manche bei einer Tante oder der Großmutter, weil die Eltern verstorben sind oder sich nicht um sie kümmern. Bei vielen Kindern wissen wir, dass sie zu Hause geschlagen werden. Für die Betroffenen ist das etwas ziemlich Normales und sie haben keine Hemmungen, offen mit uns darüber zu sprechen. Aber all die Aufklärungsversuche über Gewalt als Erziehungsmittel und über einen respektvollen Umgang mit Kindern, die mit den Eltern der Kinder im Projekt unternommen wurden, konnten die Situation nicht verbessern. All das, was sie von zu Hause mitbekommen, hinterlässt deutliche Spuren in ihrem Verhalten und in ihrer emotionalen Entwicklung. Einige zeigen Angst vor Erwachsenen,
wenn sie etwas angestellt haben und fangen sehr schnell an zu weinen, einige sind aggressiv und schreien laut, wenn ihnen etwas nicht passt.

Aber heute verläuft die Tutoría ohne Zwischenfälle und um vier räumen alle das Material und die Spiele zurück. Paula sagt den Kindern noch, dass sie am nächsten Tag Badesachen mitnehmen sollen, da wir mit ihnen zum Fluss gehen wollen. Die Kinder freuen sich und ich hoffe, dass das Wetter auch hält und wir unser Versprechen einlösen können. Jetzt haben die Kinder noch etwa 45 Minuten Zeit zum Spielen, bevor sie nach Hause gehen. Um kurz vor fünf ist es dann Zeit für die Asamblea. Dabei versammeln sich noch einmal alle im Comedor. Dort wird eine Frucht ausgeteilt und gegessen und die Kinder gehen nach Hause.


Salem International ist eine gemeinnützige Organisation, die mit Spendengeldern finanziert wird.

Der Auslandsdienst ist ein Ersatz für den Zivildienst und kann bei einer Reihe von Trägerorganisationen auf der ganzen Welt absolviert werden.

Credits
  • Autor: David Ragger
  • Fotografie: David Ragger

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