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Osttirol hat eine eigene Flüchtlingsgeschichte

Solidarität und Hilfe im und nach dem zweiten Weltkrieg.

Vor mehr als 70 Jahren gab es auch in Osttirol Flüchtlinge. Und Menschen, die ihnen halfen, mit teilweise tödlichen Konsequenzen für die Helfer. Auskunft darüber gibt unter anderem das Buch „Osttirol im Dritten Reich 1938 – 1945“ des Lienzer Historikers Martin Kofler. Eine der Routen für politisch wie rassisch Verfolgte in dieser Zeit führte über das Pustertal. Zeitzeugen berichten, dass es 1938 nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland am Grenzübergang Sillian/Arnbach zu einem „kleinen Flüchtlingsstrom“ gekommen sein soll.
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Ein Fluchtweg für rassisch Verfolgte führte Ende der dreißiger Jahre auch durch Sillian. Das Bild zeigt die Marktgemeinde nach dem „Anschluss“ 1938 (Fotograf: Unbekannt; Sammlung Josef Rauter – TAP)
Das zwar faschistische, aber nicht – wie Kofler schreibt – „ aggressiv“ antisemitische Italien erschien noch als halbwegs sicherer Weg, auch um nach Palästina, dem heutigen Israel, zu emigrieren. Die Fluchtbewegung verstärkte sich bis zu den Jahren 1941/42 aufgrund der immer stärker werdenden Verfolgung. Rund um Österreich schlossen Ungarn und die damalige Tschechoslowakei ihre Grenzen. Die Schweiz verschärfte ihre Einreisebestimmungen in einem fast unüberwindbarem Ausmaß. Eine Ausreise über Jugoslawien, die damalige „Balkanroute“, wurde 1941 durch den damals begonnenen Balkanfeldzug der Wehrmacht unmöglich. Legale Ausreisemöglichkeiten gab es ab diesem Zeitpunkt nicht mehr, was die Verfolgten zu illegalen Grenzübertritten nötigte. Wie viele abseits des Grenzübergangs den Weg über die seit dem I. Weltkrieg etablierten Schmugglerrouten an der neuen Staatsgrenze nahmen, ist nicht belegt. Ebenso wenig wie und in welchem Ausmaß Fluchthilfe zu bezahlen war. Erfolgreiche Fluchten sind aus nahe liegenden Gründen nicht dokumentiert. Zwei dokumentierte Fälle von gescheiterter Fluchthilfe sind dank der akribischen Buchführung der damaligen Machthaber hingegen bekannt. Sie endeten nicht nur für die Flüchtlinge sondern teilweise auch für die Fluchthelfer tödlich, wie etwa im Fall der Sillianer Familie Stallbaumer, sowie mit Haft in Konzentrationslagern, Schikanen und Misshandlungen. In einem Fall, dem der Sillianer Familie Schneider, reichten schon die Verköstigung der Flüchtlinge und der Hinweis auf den Verlauf der nahen Grenze für extreme Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes. Die Spur der jüdischen Flüchtlinge selbst, darunter Kinder, verliert sich in beiden Fällen in Deportationen. Für ihr Überleben gibt es keine Zeugnisse. Auf eine geglückte Fluchthilfe stieß Historiker Kofler erst nach Veröffentlichung seines Buchs bei der Sichtung eines Nachlasses: “Darin wird von einem Schreiben berichtet, in dem sich eine von Villgraten ins Gsies geschleuste Jüdin bei ihrem Fluchthelfer bedankt. Hätte es dieses Schreiben nicht gegeben, wüsste wir nicht davon.“ Ab 1945 verliefen über die Krimmler-Tauern an Osttirol vorbei die Schleusungen von jüdischen KZ-Überlebenden sowie die teilweise vom Vatikan arrangierte Fluchthilfe für Nazi-Kader. Während als Priester verkleidete Nazi-Bonzen als Fluchtziel vor allem Lateinamerika anpeilten, versuchten die jüdischen Flüchtlinge neben den beiden Amerikas ihr Heil in Palästina zu finden. Die britischen Behörden wollten die Auswanderung nach Palästina unterbinden, worauf diese Route bald über das französisch kontrollierte Nordtirol via Brenner und den Reschenpass nach Süden verlief. Das im Studienverlag erschienene Buch „Nazis auf der Flucht“  von Gerald Steinacher berichtet von grotesk absurden Situationen wie der Unterbringung von Nazi-Flüchtlingen und KZ-Überlebenden in ein und demselben Meraner Hotel. 1945 gab es in Osttirol wieder Flüchtlinge, die aus den unterschiedlichsten Gründen Hilfe suchten. Zwangsarbeiter, Südtirol-Optanten, aus Osteuropa vertriebene Volksdeutsche und Wehrmachtsoldaten hielten sich dort auf. Ein besonders trauriges Kapitel stellt das Schicksal der Kosaken, aber auch das der vor Titos Truppen geflohenen Slowenen und Kroaten dar. Sie wurden fast ausnahmslos deportiert, was in Koflers Worten „einem Todesurteil gleich kam.“
1946 bevölkerten nach dem Abzug der Kosaken 2600 slowenische Flüchtlinge das Barackenlager in der Peggetz.
1946 bevölkerten nach dem Abzug der Kosaken 2600 slowenische Flüchtlinge das Barackenlager in der Peggetz. Foto: Rafaelova Drubzba, Ljubljana
Die Osttiroler Bevölkerung betrug zu diesem Zeitpunkt rund 25.000 Personen, die Zahl der Flüchtlinge rund 10.000. Söhne und Väter waren im Namen eines vaterländischen Kriegs verheizt worden und fehlten nicht nur als Arbeitskräfte, was die Versorgungslage der hauptsächlich landwirtschaftlich geprägten Region zusätzlich erschwerte. In der durch die Kriegsfolgen angespannten Mangelwirtschaft reagierte die Bevölkerung auf die Flüchtlinge teilweise ablehnend bis feindlich. Kofler skizziert die damalige Stimmung, in dem er aus der 1946 erschienenen August-Ausgabe des „Neuen Osttiroler Boten“ zitiert: “Was nicht taugt, gehört nicht auf freien Fuß, sondern tags an ergiebige Arbeit und nachts hinter Stacheldraht.“ Nicht verbürgt sind freundlichere Äußerungen, was nicht bedeuten muss, dass es sie nicht gegeben hat. Wenn Sie Geschichten und Menschen kennen, die trotz großer Not und bitterer Zeiten selbst das wenige Vorhandene zu teilen bereit waren, so würde uns sehr freuen, darüber zu hören. P.S.: Dass die Flucht für einige jüdische Flüchtlinge glücklich endete, durfte ich erfahren, als ich noch in Sillian eine Frühstückspension betrieb. Wir hatten immer wieder jüdische Gäste, die ihren Kindern und Enkelkindern die Wege zeigten, über die sie ihr Leben retten konnten.  
Marcus G. Kiniger wurde 1969 in Wien geboren. Seine Familie kam 1976 nach Sillian, wo der gelernte Tourismuskaufmann und ambitionierte Musiker bis 2008 lebte, bevor er nach Hamburg übersiedelte. In Norddeutschland vertreibt Kiniger Produkte aus Tirol. Er schreibt für dolomitenstadt.at die Kolumne "Waterkantiges" und ist auch regelmäßiger Autor im DOLOMITENSTADT-Printmagazin.

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