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Wo am Ende des Kontinents Europa neu anfängt

Eine Portugalreise entlang einer überraschenden Europameisterschaft.

Mein Jahr war von einer Reise quer durch Europa geprägt, die mich auch an das südwestlichste Ende des Kontinents brachte. Als die Frau meines Vertrauens und ich losfuhren, taten wir das auch, weil wir uns nicht sicher waren, ob das Europa, das wir kennen und mögen, das der offenen Binnengrenzen und der Reisefreiheit, in naher Zukunft noch existent sein würde.
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Europa an der Klippenkante – unser Zuhause steht nah am Rand. Fotos: Dolomitenstadt/Kiniger
Quasi globetrotterische Torschlusspanik. Im Angesicht von Le Pen, Farage oder ihrer deutschen wie österreichischen Bewunderer. Es wurde eine an Emotionen und Erkenntnissen reiche Reise. Unter anderem werden wir auch bestohlen, um Handys und Notebooks erleichtert, mit ihnen um die Bilder des ersten Teils unserer Reise. Bilder, von denen ich erzählen will. Vorrunde Wir treffen Anfang Juni in Portugal ein. Über Portugal weiß ich anfangs wenig. Der Reiseführer gab Auskunft. Man sei stark abhängig von Förderungen, besonders aus der Europäischen Union. Landflucht in hohem Maß. Arbeitssuche im Ausland. Raue Gegend. Manchmal verstockt wirkende Einwohner. Tourismus gelte als Chance. Es gebe viele Potentiale. Das klang vertraut. Vielleicht musste ich deshalb dort viel an eine meiner Heimaten denken, an Osttirol. Unter anderem auch wegen der Sprache, die reich an Zischlauten – „ST“ und „Sch“ – so wie verwirrender Aneinanderreihungen von Vokalen für nicht Wissende den Zugang nicht gerade einfacher macht. Vorrunde 1. Spieltag Als wir an der Ost-Algarve eintreffen, beginnt gerade die Fußball Europameisterschaft. In Manta Rota, einem eher unspektakulären Küstenabschnitt, sehen wir die ersten Spiele der deutschen und der portugiesischen Mannschaft in einem kleinen Fischrestaurant. Am Tisch Muscheln aus dem nahen Atlantik, auf dem Bildschirm Experten in Anzügen. Die Familie aus Lissabon direkt neben uns gibt sich euphorisch bis bescheiden in ihren Erwartungen gegenüber der eigenen Mannschaft. Anders als die deutschen Anhänger, die zwei Tage vorher von ihrem Team wie selbstverständlich Weltmeisterliches erwarten. Starteten die Deutschen einigermaßen gut, werden die Portugiesen von ambitionierten Isländern in Schach gehalten. Vom österreichischen Team hört man nichts Gutes. Der Familienvater am Nebentisch meint, da sei noch Luft nach oben. Für beide Teams. Am Wohnmobilstellplatz in Küstennähe erklärt uns unaufgefordert eine deutsche Dame, es sei hier schon sehr schön, aber nur unter der Woche. Am Wochenende kämen die Spanier über die nahe Grenze. In Massen. Die habe sie gefragt, was sie denn hier machten, die Spanier, die hätten doch selbst eine Küste. Manchmal verfluche ich mich für unser Hamburger Kennzeichen.
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Hinter mir nur noch Amerika.
Vorrunde 2. Spieltag Wir reisen weiter gegen Westen, vorbei an „Zu Verkaufen“-Schildern an vielen Häusern und Grundstücken. Sehen alte drahtige Männer mit vom Leben gezeichneten Gesichtern, Frauen in schwarzer Witwentracht mit Kopftüchern. Kurz vor dem Ende der Ostalgarve das Spiel Portugal-Österreich. Die Portugiesen singen lautstark und euphorisch ihre Hymne. Ich halte mich bei der Österreichischen zurück. Zum einen bin ich in klarer Unterzahl, zum anderen bin ich nicht wirklich textsicher. Im Spielverlauf beweist Österreich mehr Glück als Verstand. Ich beginne mit den ebenso chancenreich wie unglücklich spielenden Portugiesen mitzuleiden. Je länger das Spiel dauert, desto größer erscheinen mir die Gemeinsamkeiten zwischen der österreichischen Mannschaft und den Schnecken auf meinem Teller. Ronaldo verschießt Chance um Chance. Der Koch des Lokals beschimpft die heimische Mannschaft. Eine Damenrunde in portugiesischen Nationalfarben kompensiert den EM-Frust mit immer neuen Runden Essens und Drinks. Auf dem Nachhauseweg wirken die Körper der Fans in Teamdressen traurig gekrümmt. Vorrunde, 3. Spieltag Weiter gen Westen. Salema, mitten in der Felsalgarve. Steilküstenabschnitte, die von kleinen Buchten unterbrochen werden. Wieder ein Fischerdorf, das sich zum Tourismusort wandelt. Kaum noch ursprüngliche Architektur, dafür Hotelinfrastruktur, die Potentiale nutzbar machen soll. Der frühere Charme ist nur noch auf alten Schwarzweißfotos zu erahnen. In einem der wenigen alten Fischerhäuser finden wir die einzige Bar, die offen hat. Es ist Freitag. Portugal spielt gegen Ungarn. Auf das Spielglück der Portugiesen angesprochen meint der Wirt, er halte nichts von Glück. Gewinne müsse man sich erarbeiten. Mit Glück habe das alles nichts zu tun. Das Spiel wogt hin und her. Am Ende steht fest, Portugal und Ungarn kommen in die nächste Runde, Island und Österreich scheiden aus. Der Kneipenwirt hofft auf Umsätze mit Cocktails. Ich überfliege die Tageszeitung. Die Abstimmung der Briten über den Brexit steht bevor. Stämmige britische Mädels in neonfarbenen Minikleidchen beschweren sich kampflustig mit hartem Akzent und noch härteren Gesichtern unter grellem Make-up über die gestrige Rechnung. Maggie Thatcher klingt im Ohr: “I want my money back“. Als sie den Raum verlassen, wirkt nicht nur der Wirt erleichtert. Achtelfinale Die Schlagzeilen der Zeitung am nächsten Tag lassen mich nicht erleichtert sein. Brexit. Sie wollen wirklich gehen, die Briten. Der Schock sitzt tief. Nicht nur bei uns. Wir treffen in einem Supermarkt ein britisches Seniorenpaar. Sie entschuldigen sich für das Ergebnis. Er meint, die Übersechzigjährigen hätten nicht abstimmen dürfen. Sie sagt, die Zukunft ganzer Generationen habe man versaut. Ich kann nur nicken und denke an die Wahl, vor der meine Heimat steht. Als wir in Sarges, dem südwestlichsten Punkt Europas ankommen, bläst ein rauer Wind in Sturmstärke und treibt die Gischt über die gut siebzig Meter hohen Klippen. Angler stehen mit für mich schwer nachvollziehbarer Sicherheit an der Kante der Steilküste und ziehen einen Fisch nach dem anderen aus der tosenden Brandung.
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Wind in Sturmstärke am Westrand Europas.
Die Vegetation scheint die gleiche wie auf Hochalmen zu sein. Flechten, Disteln und krautige Pionierpflanzen. Ein Imbisswagen verspricht die letzte Bratwurst vor Amerika. Der Hafen ist voll von kleinen Fischerbooten, die kaum hochseetauglich scheinen. Im Ort selbst, einer zweitausend Seelen Gemeinde, treibt uns der Wind in eine Kneipe. Wieder ein Portugalspiel, diesmal gegen Kroatien. Ein deutscher Gast wundert sich über die hohe britische Präsenz in Portugal. Der Barkeeper und seine Gäste von der Insel erklären ihm die historische Nähe der Briten zu Portugal, seit dem Mittelalter sei man verbündet gegen die Spanier. Man lacht über das behäbige Englisch des Deutschen, der sich wenig später mit genau diesem Englisch prächtig mit zwei Niederländern übers Auswandern, das Surfen und das Leben unterhält. Neben uns nehmen Österreicher Platz. Eine Gruppe Radwanderer, alle rund um die Sechzig. Ein Mann mit vier Schwestern und seiner Gattin aus dem Tiroler Unterland. Wir sprechen über die EM, die Wahlwiederholung in Österreich. Unsere Reise, ihren Urlaub. Die Gattin des Radfahrers nennt die schwarze Servicekraft „Murli“ und klopft sich dabei auf die Schenkel. Die anderen aus der Reisegruppe scheinen mir nett zu sein. Portugal gewinnt. Viertelfinale Wir haben die Algarve hinter uns gelassen. Die Westküste ist bizarr, rau, felsig, immer wieder neu. Das Meer nagt am dünnbesiedelten Land. Wo die Portugiesen weggehen, rücken Deutsche, Österreicher, Belgier, Niederländer, Briten, Europäer nach. Kaufen für wenig Geld harten Boden. Betreiben Biolandbau, Surfschulen, Feriensiedlungen, Campingplätze.
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Angeln ist in Portugal Volkssport, egal bei welchem Wetter.
Je näher wir Lissabon kommen, desto dichter wird die Besiedlung. Etwas oberhalb von Sines, dem Geburtsort Vasco da Gamas, halten wir, sehen uns wieder ein Spiel an. Portugal gewinnt im Elfmeterschießen gegen Polen. Das Spiel kann uns nicht fesseln. Dafür ein langes, schmales Fischerboot, das abends von einem altersschwachen Traktor an Land gezogen wird. Gut zwanzig Leute helfen den Fang zu entladen. Man teilt. In der Nacht tanzen am Meer die Positionslichter anderer Fischer über den Horizont. Halbfinale Lissabon. Eine Stadt von marodem Charme. Wir lassen uns treiben, erwandern die hügelige Stadt, die reich an Nationen, Eindrücken und pittoresken Ansichten ist. Im Zentrum, beim Cais das Colunas ist eine Public-Viewing-Area eingerichtet. Der Platz füllt sich mehr und mehr. Portugal spielt gegen Wales. Die Fans sind euphorisiert, schwenken Fahnen, tanzen und jubeln, schon bevor das Spiel angepfiffen wird. Links von uns stehen Waliser in ihren Teamdressen. Ich wünsche viel Glück, auch wegen des Brexit und sie lachen etwas bedrückt.
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Heiligenverehrung in Lissabon – Ronaldo kommt vielleicht bald dazu.
Hinter uns brüllen Indonesier, glühende Portugalfans mit Schal und Fahne, „Bora, Bora“ – „Los, Los“. Die Stimmen überschlagen sich bei jedem Tor der Portugiesen. Portugal gewinnt und die Stadt flippt aus. Wir werden vom Strom der Menschen durch die Straßen getragen. Der öffentliche Verkehr bricht zusammen und wir nehmen ein Taxi. Unser Fahrer fährt wie entfesselt durch die Massen, bremst scharf vor einem glücklich über die Straße tanzenden Paar. Das Mädchen kommt und belohnt ihn mit einem dicken Kuss auf die Wange. Wir jagen in einem Irrsinnstempo durch die Straßen. Man hupt, jubelt, lacht, freut sich. Wir werden davon angesteckt. Jubeln mit, freuen uns, lachen an Kreuzungen Freudentränen. Spielunterbrechung Wir sind am Boden zerstört. Weinen. Weil wir traurig und verletzt und wütend sind. Nicht etwa, weil Deutschland gegen Frankreich verloren hat. Sondern weil wir bestohlen wurden. Weil man in unser Wohnmobil eingebrochen, unsere Notebooks und Handys gestohlen hat. Weil Bilder von zwei Monaten Reise weg sind. Weil man in unser Zuhause eingedrungen ist. Weil das nicht richtig ist. Wir erfahren viel Hilfe. Nicht unbedingt von der Polizei, die recht offen zu verstehen gibt, da sei wohl nicht viel zu machen. Dafür aber von jedem anderen, den wir treffen. Man hilft, wo man kann, mit Internet- und Telefonzugang und Trost. Man entschuldigt sich bei uns. Eddie, ein portugiesischer Freund, sagt, es tue ihm leid, dass uns das in seinem Land passiert sei. Verletzter Nationalstolz von der sympathischen Art, wie ich finde. Finale Einen Tag nach dem Diebstahl sitzen wir immer noch etwas benommen in einem Cafe. Eine Wand wird von einem Beamer bestrahlt. Außer uns alles Portugiesen. Schräg neben uns eine alte Dame, die von Spielanfang bis Spielende die Hände in die Luft streckt und den Himmel um Gnade anzuflehen scheint. Das Spiel beginnt. Einmal mehr wird Ronaldo gefoult. Er fällt. Hält sich das Knie. Weint. Steht auf. Spielt weiter. Setzt sich wieder hin. Weint. Wird unter Tränen vom Platz getragen. Hände werden vor Münder gehalten. Die Arme der Alten scheinen noch etwas weiter zur Decke zu wachsen. Es wird still im Raum. Mitleid kommt auf. Mit dem Team, mit dem ganzen Land. Mit Ronaldo, dem bis zu diesem Moment Unnahbaren, dem Arroganten, dem allzu perfekt Wirkenden.
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Die alte Dame und das Team - Die Arme bis in die Verlängerung stets oben, eine sportliche Leistung für sich.
Das Spiel geht weiter. Wir fiebern mit. Hoffen mit den Portugiesen, sind angespannt, sehen eine andere Mannschaft. Eine, die für ihren Kapitän spielt, auch wenn er nicht mehr auf dem Platz steht. Es geht in die Verlängerung. Das entscheidende Tor fällt. Alle Hände sind oben, die alte Dame jubelt, wir jubeln, das ganze Lokal jubelt. Auf der Straße beginnt ein Hupkonzert. Menschen treten vor ihre Häuser, rufen, schreien, lachen. Ich brülle mit den Vorbeifahrenden, recke die Arme in die Luft und freue mich unbändig. Weil die Freude ansteckend ist. Weil wir unseren Verlust vergessen haben. Weil das Leben gut ist. Weil da so viele glückliche Gesichter sind. Weil wir gerade Europameister geworden sind.
Marcus G. Kiniger wurde 1969 in Wien geboren. Seine Familie kam 1976 nach Sillian, wo der gelernte Tourismuskaufmann und ambitionierte Musiker bis 2008 lebte, bevor er nach Hamburg übersiedelte. In Norddeutschland vertreibt Kiniger Produkte aus Tirol. Er schreibt für dolomitenstadt.at die Kolumne "Waterkantiges" und ist auch regelmäßiger Autor im DOLOMITENSTADT-Printmagazin.

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