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Die Ewigkeit des Augenblicks

Annelies Senfter sammelt das Leben in Skizzen ein, recherchiert Fakten, lässt Flüchtiges heranreifen und wartet, "bis sich alles fügt". So entstehen Wortbilder und Bildgedichte von poetischer Schönheit.

Es ist spannend, mit Annelies Senfter über Kunst zu plaudern. Ihr Arbeitsstil erinnert mich an journalistische Recherche – mit einem überraschenden und faszinierenden Ergebnis. Senfter stellt sich nicht vor eine Leinwand und malt ein Bild, sie nimmt den Fotoapparat nicht mit dem Ziel in die Hand, ein Kunstfoto zu schießen und setzt sich auch nicht hin, um ein Buch oder ein Gedicht zu schreiben. Sie bewegt sich durch das Leben, ihr Leben, und notiert Momente des Alltags in Worten oder Bildern. Mit Achtsamkeit für das Unbeachtete und viel Aufmerksamkeit für den Augenblick. Erst später, Monate, manchmal Jahre später, werden diese Wahrnehmungen – aufbewahrt in einem Schreibblock als lyrische Gedankenskizzen oder auf der Speicherkarte der Fotokamera – mit neuen Augen noch einmal betrachtet. „Ausgewertet“ ist das falsche Wort für diesen Vorgang. Es ist eher ein Erkennen von Mustern und deren Zusammensetzung zu einem Narrativ, einem erzählerischen Zusammenhang, der nun in Worten, Bildern und Installationen zum spontan inszenierten Kunstobjekt wird.

Für ihre Ausstellung mit dem Titel „Coming to See“ im Salzburger Kunstverein arrangierte Annelies Senfter Gegenstände, die sie im und um das Schloss Leopoldskron gesammelt und fotografiert hat. Das Schloss gehörte dem Künstler und Theaterregisseur Max Reinhardt, der es renovierte, bis die Nazis das Anwesen nach dem Anschluss 1938 konfiszierten. In Senfters Arrangement wird weder die Geschichte des Hauses noch jene von Max Reinhardt erzählt. Aber der Theaterspiegel des Schauspielers, die Kastanien aus dem Schlosspark und die Fotoarbeiten lösen Gedanken und Stimmungen aus, die das Damals und Heute, die Welt von Max Reinhardt und jene der Künstlerin verbinden.


Gegenüber von mir auf den orangen Plastikbänken der Fähre von Long Island nach New London sitzen zwei Männer. Einer trägt einen Spitzbart und ein Basecap. Neben ihm liegt ein schöner junger Hund, den er streichelt und krault. „We just picked him up“, sagt er. „We had to come here to pick him up.“ Der Hund ist aufgeregt. „Are you German or Austrian?“, fragt mich der Mann mit dem Spitzbart und fährt ohne meine Antwort abzuwarten fort: „My family comes from Austria. There is still a house somewhere. They came here because of the war. I don’t know to whom it belongs now. The house. My family does not want to talk about it.“ „Ask them again“, sage ich. „Maybe I should“, antwortet er.

New London, 18.10.2015

– Eintrag aus dem Skizzenblock von Annelies Senfter


In der Galerie im Andechshof in Innsbruck war Annelies Senfter ebenfalls mit einer Einzelausstellung vertreten. Bis 3. Dezember 2017 zeigte sie Arbeiten aus dem Zyklus „Asking the Trees“. Auch hier findet sich dasselbe Muster des Entdeckens und Erzählens. „Asking the Trees“ ist auf den ersten Blick ein Herbarium, eine Sammlung schöner Blätter, sorgfältig nach allen Regeln der botanischen Konservierungskunst präpariert. Das filigrane, nur noch teilweise beblätterte Ästchen einer Trauerweide, die Blätter der Rotbuche und der Stieleiche … sie könnten auch in einem naturhistorischen Museum hängen, wären da nicht die Schildchen hinter Glas, die nur auf den ersten Blick kaum unterscheidbar von den üblichen Beschriftungen sind. Da steht ganz trocken, fast wissenschaftlich unter dem lateinischen Namen und dem Fundort eine Information, die alles verändert. Ort und Zeit werden plötzlich zu Dimensionen, die eine neue Sicht auf das Fundstück erzeugen. Das Beiläufige, Zufällige, das Blatt, über das man hinwegschreitet, wird aufgehoben und erhoben, zum Zeitzeugen und Kunstobjekt, konserviert als wertvolle Erinnerung an etwas, das an diesem Ort geschah.

Fagus Sylvatica, Rotbuche Villa Trapp, Salzburg Aigen
Salix Babylonica, Trauerweide Schloss Leopoldskron, Salzburg
Quercus Robur, Stieleiche Villa Kestranek, St. Gilgen

„Asking the Trees“ ist auch ein gutes Beispiel für die Methode, mit der Annelies Senfter Fotos und Worte zu einer medienübergreifenden, poetischen Bildsprache der Erinnerung verbindet. Ihr primäres künstlerisches Medium ist die Fotografie. Aber nicht nur ich habe das Gefühl, dass sie genauso gut Schriftstellerin sein könnte. „Bei einem Arbeitsaufenthalt in den USA hatte ich einen Disput mit einem Dichter“, erzählt sie im Interview, „der meinte auch, ich sei eigentlich eine Dichterin.“ Besonders reizvoll ist diese Parallelität der poetischen Ausdrucksweise in einem Zyklus mit dem Titel „Asking someone’s permission to take a photograph is a difficult moment“. Gerahmt an der Wand hängen bildhafte Beschreibungen von Situationen, in denen kein Foto entstand. So erzeugt Senfter das Bild, das sie nicht fotografieren wollte – oder durfte – einfach im Kopf des Betrachters.

Diese Gedächtnisleistung, das Einfrieren des Augenblicks entweder durch Beschreibungen oder Fotos, lässt eine Sehnsucht nach dem Bleibenden, nach Erinnerung spüren. Senfters Zugang zur Fotografie ist der des Bewahrens. Ein Zugang, der in der Bilderflut unserer Tage ins Wanken gerät. „Snapchat irritiert mich“, gibt die Künstlerin, Jahrgang 1980, zu. Die populäre Foto-App zerstört Bilder automatisch nach 24 Stunden, löscht das digitale Gedächtnis erbarmungslos aus, um Platz zu machen für immer Neues und Flüchtiges. „Das ist das Gegenteil von dem, was die Fotografie immer war,“ sagt Senfter, die in ihrer Kunst Spontaneität und Sorgfalt auf oft verblüffende Weise verwebt.

Man hat einerseits das Gefühl, dass sie akribisch sammelt und archiviert, recherchiert und arrangiert. Andererseits wirkt Vieles zufällig, spontan, einfach passiert. Die Erklärung liegt in der Zeitverschiebung zwischen dem Ereignis und der Zuweisung seiner Bedeutung. Anders als Snapchat gibt Annelies Senfter ihrer Spontaneität eine Chance über den Tag hinaus.

Annelies Senfter hat ihre Wurzeln in Innervillgraten und wuchs in Leisach auf. Die Künstlerin lebt in Salzburg und präsentiert ihre Arbeiten seit 2007 im In- und Ausland. 2015 wurde ihr Zyklus „Narben“ in Lienz gezeigt. 2016 wurde Senfter für den RLB-Kunstpreis, 2017 den Christian Doppler Kunstpreis nominiert. Foto: Ramona Waldner.

Es kann Monate dauern, bis ein voller Skizzenblock oder hunderte Bilder auf der Speicherkarte der Kamera erstmals durchgesehen werden, hervorgeholt und arrangiert in einem neuen Kontext, nicht wie Versatzstücke auf einem Flohmarkt, sondern wie die Noten eines Musikstücks oder die Zeilen eines Gedichtes. So sammelt Annelies Senfter das Leben ein, in schnellen Skizzen und spontanen Momenten, lässt das nur scheinbar Flüchtige heranreifen und wartet, „bis es sich fügt. Das baucht viel Geduld und gelingt nicht immer.“ Aber wenn es sich fügt, dann wird daraus pure Poesie.


Mehr Informationen
www.anneliessenfter.at

Gerhard Pirkner ist Herausgeber und Chefredakteur von „Dolomitenstadt“. Der promovierte Politologe und Kommunikationswissenschafter arbeitete Jahrzehnte als Kommunikationsberater in Salzburg, Wien und München, bevor er mit seiner Familie im Jahr 2000 nach Lienz zurückkehrte und dort 2010 „Dolomitenstadt“ ins Leben rief.

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