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„Amok“ – ein Theaterstück ging unter die Haut

Am Gymnasium Lienz gelang einmal mehr eine beeindruckende Inszenierung.

"Gänsehaut pur!", "So eindringlich gespielt - und das in diesem Alter!", "Erschreckend!", "Unglaublich!" - und ähnlich lauteten die Kommentare der Zuschauer, nachdem sie nach minutenlangem Applaus und stehenden Ovationen sichtlich beeindruckt das Stück "AMOK" der Theatermodulgruppe des BG/BRG Lienz unter der Leitung von Arete Riedl und Arno Oberegger verließen. Es war tatsächlich eine Aufführung, die unter die Haut ging. Und das aus mehreren Gründen. Zum einen war es der Inhalt des Stückes. Es ist die Welt des 16-jährigen Jens, der sich bezeichnenderweise "Cold" nennt. Eine, von außen betrachtet, alltägliche Welt: erfolgreiche Eltern, gute Schulnoten und eine erste Liebe. Doch dahinter versteckt sich Colds eigentliches Universum als ein für ihn schlüssiges und für Außenstehende völlig abstruses Gedankenkonstrukt voller existentialistischer Fragen, nihilistischer Glaubenssätze und emotionaler Abgründe, in dem er an der Scheinheiligkeit und Oberflächlichkeit der ihn umgebenden Eltern, Lehrer und Mitschüler verzweifelt. Seine Sinnkrise ist eine Abwärtsspirale an Leere, Einsamkeit und Todesgedanken, die schließlich im Amoklauf endet. Zum anderen war es die beeindruckende Inszenierung und Musikauswahl der beiden Regisseure und die schauspielerische Leistung der jungen Darsteller.
Patrik Niederwieser legte die Rolle des Cold beeindruckend intensiv an. Fotos: BG/BRG Lienz
Patrick Niederwieser hätte Cold nicht noch besser verkörpern können. Er spielte mit einer dermaßen großen Eindringlichkeit, dass seine Verzweiflung in manchen Szenen zu Tränen rührte und in anderen den Atem anhalten ließ. "DU MUSST RAUS. Und da trifft dich die Erkenntnis mit siebzigtausend Volt. Du bist eingesperrt. Nicht im Klassenzimmer, nicht in der Schule, sondern auf dem Planeten. Du kannst nicht raus, weil nur ein DRINNEN existiert. (...) Dieser Planet ist ein Gehege. Kein Wunder, dass immer mehr Leute auf die Idee kommen, den Rattenstall in die Luft zu sprengen. Völlig logisch, sich den Weg freizubomben, wenn man anders nicht rauskommt.“ Auch seine Eltern wurden von Pia Elwischger und Adrian Saciri großartig gespielt. Adrian Saciri als Vater zählt in einer monotonen Endlosschleife einen Amoklauf nach dem anderen gebetsmühlenartig auf, als ob er damit die Wahnsinnstat seines Sohnes in eine Art Realität bringen möchte. "Dezember 1989. Marc Lepine erschießt an der Universität Montreal 14 Studentinnen und verletzt 10 weitere. Allesamt weiblich. (...) Neyagawa, Japan. Februar 2005. Ein 17-jähriger ersticht einen Lehrer seiner früheren Schule und verletzt zwei weitere schwer. (...) Düsseldorf, 11. April 2010. Jens Kammbeck, 16 Jahre. 22 Tote." Seine Frau verzweifelt gleichzeitig an dem Tod ihres einzigen Kindes, an der Frage nach dem Warum, an den Reaktionen ihres Mannes und der Sensationsgier der Presse, die ihr, verkörpert von Josef Mairhofer, mit einer gnadenlosen und zynischen Aufdringlichkeit begegnet. Ihr Schlussplädoyer, in dem sie erkennt, dass von all den Rollen, die sie im Leben hätte spielen können, nur mehr jene einer egozentrischen Rabenmutter, die ihr Kind traumatisiert hat, übrigbleibt, geht wirklich nahe. "Cold hat uns nicht nur die Zukunft gestohlen, sondern auch die Vergangenheit. Cold hat uns annektiert. Was wir waren, sind und sein werden, ist für immer Eigentum von Cold."
Ähnlich unter die Haut geht die Todesszene des Lehrers, in der Matthias Jesacher mehr durch seinen Atem als durch seine Worte die absolute Unverständlichkeit der Tat eines seiner besten Schüler ausdrückt. Am Boden liegend, zu Gott betend, ist er es, der auch die letzten Worte von Cold hört: "Ich bin Gott und Gott ist tot!" Dann fällt der letzte Schuss. Wer könnte diese Tat verstehen? Colds Freunde, souverän gespielt von Anna Pichler und Sebastian Wieser, mit denen er Counter-Strike spielt und die die Schnelligkeit und die Aggressivität von Computerspielen einerseits mit der Geräuschkulisse der vor ihnen aufgebauten PCs und andererseits ihrer eigenen pistolenartigen Anordnungen erkennen lassen? Oder Colds Freundin Susanne, authentisch dargestellt von Chantal Pascuttini, die sich - ähnlich wie Cold - gefangen in einem Netz aus gesellschaftlichen Normen und dem Wunsch nach individueller Freiheit fühlt? Die Geschichte kann nur enden, wie sie endet: ohne Erklärungen. "Das Leben besteht aus Dingen, die aufeinander folgen. Ursache. Wirkung. Aus A folgt B. Seltsamerweise ergibt sich aus A trotzdem keine Erklärung für B. Zwischen A und B ist kein Pfeil, sondern ein Fragezeichen."
Silvia Ebner ist eine Erzählerin mit Leib und Seele. Ihr erstes Buch „Vom Sterben. Und Leben“ erschien im Sommer 2018 im Dolomitenstadt-Verlag und wurde gleich zum Bestseller. Die Sprachlehrerin arbeitet auch als Journalistin, Theaterautorin und Podcasterin.

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