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Afghanistan: Todesopfer bei Chaos am Airport Kabul

UNO warnt vor Katastrophe. Nehammer und Kurz weiter gegen Aufnahme von Flüchtenden.

In Kabul sind im Gedränge rund um den Flughafen sieben Menschen ums Leben gekommen. Am Sonntag versammelten sich ungeachtet großer Hitze laut britischem Verteidigungsministerium erneut tausende Menschen vor dem Airport der afghanischen Hauptstadt, um das Land nach der Machtübernahme der radikalislamischen Taliban zu verlassen. Ein Sprecher bezeichnete die Bedingungen vor Ort als "nach wie vor äußerst schwierig". Die UNO warnte indes vor einer "humanitären Katastrophe". Bereits am Samstagabend hatte ein Korrespondent des britischen Senders Sky News von chaotischen Szenen vor den Toren des Flughafens berichtet, bei denen Menschen "gequetscht" worden seien. Viele seien dehydriert und verzweifelt gewesen. Seinem Bericht zufolge konnten Sanitäter bei mehreren Menschen keine Lebenszeichen mehr feststellen, woraufhin diese in weiße Tücher gehüllt wurden. Die Taliban warfen den USA vor, für die dramatische Lage am Flughafen verantwortlich zu sein. "Amerika mit all seiner Macht und seinen Möglichkeiten scheitert daran, am Flughafen Ordnung zu schaffen", sagte der ranghohe Taliban-Vertreter Amir Khan Muttaqi (Mutaki). "Im ganzen Land" herrschten "Frieden und Ruhe" - "nur am Flughafen Kabul herrscht Chaos". Die gefährliche Situation am Flughafen erschwert zunehmend die Rettungsaktionen der NATO-Staaten. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace bezeichnete es als unmöglich, alle Schutzbedürftigen rechtzeitig auszufliegen. Keine Nation werde dazu in der Lage sein, bis zur Frist am 31. August alle zu retten, sagte Wallace der "Mail on Sunday". Pessimistisch hinsichtlich des Schicksals tausender afghanischer Ortskräfte äußerte sich auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Bis Ende des Monats 60.000 Menschen auszufliegen, wie die USA dies planten, sei "mathematisch unmöglich", sagte er der Nachrichtenagentur AFP.
Nach Angaben des UNO-Kinderhilfswerks UNICEF benötigen - unabhängig von den politischen Entwicklungen - bereits fast zehn Millionen Mädchen und Buben in Afghanistan humanitäre Hilfe. Foto: APA
Borrell forderte eine Verlängerung des Evakuierungseinsatzes des US-Militärs über den August hinaus. "Wenn die Amerikaner am 31. August abziehen, haben die Europäer nicht die militärische Kapazität, den Militärflughafen zu besetzen und zu sichern, und die Taliban werden die Kontrolle übernehmen." Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan versuchen täglich zahlreiche Afghanen und ausländische Staatsbürger, sich Zutritt zum Flughafen der Hauptstadt zu verschaffen, um mit einem der Evakuierungsflüge aus dem Land zu fliehen. Die deutsche und die amerikanische Botschaft in Kabul rieten ihren Staatsbürgern am Samstag von Versuchen ab, den Flughafen zu erreichen. Die "ohnehin schon schreckliche Situation" könnte sich zu einer "absoluten Katastrophe" entwickeln, warnte unterdessen die Afghanistan-Direktorin des Welternährungsprogramms (WFP), Mary-Ellen McGroarty, in der britischen Sonntagszeitung "The Observer". Das WFP schätzt, dass von den etwa 38 Millionen Menschen in Afghanistan heute schon 14 Millionen nicht genug zu essen haben. Das Land wird auch von einer schweren Dürre geplagt. Nach Angaben des UNO-Kinderhilfswerks UNICEF benötigen - unabhängig von den politischen Entwicklungen - bereits fast zehn Millionen Mädchen und Buben in Afghanistan humanitäre Hilfe. McGroarty forderte eine enge Abstimmung innerhalb der internationalen Gemeinschaft. "Wir müssen Unterstützung ins Land bringen - nicht nur Nahrung, auch medizinische Unterstützung und Schutz. Wir brauchen Geld, und wir brauchen es jetzt", appellierte sie. Falls nicht innerhalb von sechs oder sieben Wochen Hilfe eintreffe, werde es zu spät sein - viele Straßen seien dann durch Schnee nicht mehr passierbar. Ein Großteil der humanitären Hilfsorganisationen will seine Arbeit in dem krisengebeutelten Land jedenfalls fortsetzen. Alle Organisationen der Vereinten Nationen, wie etwa das Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), wollen nach Informationen der "Welt am Sonntag" ihre Arbeit in Afghanistan trotz der Machtübernahme der Taliban weiterführen. Nach Angaben des UNO-Informationsbüros in Genf handle es sich dabei um etwa 300 ausländische und rund 3.000 einheimische Mitarbeiter. "In vielen Provinzen wurden wir von den Taliban gebeten, dass wir bleiben und unsere nachweislich erfolgreiche Arbeit für Kinder fortsetzen", so UNICEF gegenüber der "Welt am Sonntag". Laut Einschätzung des UNO-Büros in Kabul in dem Bericht wollen auch die meisten der über 150 nicht-staatlichen Hilfsorganisationen (NGOs) vor Ort bleiben. Dies betreffe mehrere Tausend Mitarbeiter. Die US-Regierung aktiviert in einem seltenen Schritt die zivile Luftreserve und verpflichtet kommerzielle Fluggesellschaften zur Unterstützung der Evakuierungsmission in Afghanistan. Betroffen von der Anordnung seien insgesamt 18 Flugzeuge von 6 US-Airlines, teilte das Pentagon am Samstag mit. Diese Maschinen sollten nicht den Flughafen in Kabul ansteuern, sondern für den Weitertransport von Evakuierten aus Zwischenstationen eingesetzt werden. Damit würden Kapazitäten von Militärflugzeugen entlastet, die für die Luftbrücke von und nach Kabul genutzt werden könnten, hieß es. Die USA fliegen schutzsuchende Afghanen zunächst in andere Länder aus, bevor sie weiter in die Vereinigten Staaten reisen können. Der russische Präsident Wladimir Putin kritisierte unterdessen die Bestrebungen westlicher Länder, Flüchtlinge aus Afghanistan in dessen Nachbarländern aufnehmen zu lassen. Russland wolle nicht, dass afghanische Kämpfer als Flüchtlinge getarnt auftauchten, sagte Putin der Agentur Ria Nowosti zufolge. Der Afghanistan-Konflikt betreffe Russlands Sicherheit unmittelbar. Am Samstag rief die Europäische Kommission die EU-Länder auf, sich auf mögliche Fluchtbewegungen aus Afghanistan vorzubereiten. "Wir sollten nicht die gleichen Fehler wie 2015 machen. Wir sollten nicht warten, bis die Menschen an den EU-Außengrenzen stehen", sagt die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson der "Welt am Sonntag". Man müsse die Afghanen innerhalb des Landes und in den Nachbarländern der Region unterstützen. Die schwedische Politikerin rief aber auch alle EU-Länder auf, über das Umsiedlungsprogramm des UNO-Flüchtlingshochkommissariates mehr Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. "Die EU-Kommission ist bereit, solche Programme zu koordinieren und zusätzliche Finanzhilfen bereitzustellen." EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte zuvor bei einem Besuch in Spanien einen ähnlichen Appell an alle Staaten gerichtet, die an der Afghanistan-Mission beteiligt waren. Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) kritisierte die Aussagen Johanssons am Sonntag. Er sei "schockiert", die Kommission sende "permanent die falschen Botschaften", sagte Nehammer in einem der APA übermittelten Statement. "Vorschläge, jetzt alle Menschen aus Afghanistan nach Europa zu holen, kann ich nur ganz entschieden verurteilen." Ziel könne nicht sein, "abertausende" Afghanen nach Europa zu holen. Das sei keine Lösung und eine "sehr kurzsichtige und ideologisch fehlgeleitete Politik", die gefährlich für Europa sei. Ähnlich wie Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) verwies Nehammer auf die bereits jetzt "große afghanische Community" in Österreich. Von den insgesamt rund 44.000 Afghanen hierzulande hätten viele keine Schulbildung und seien "trotz großer Bemühungen schwer zu integrieren", das zeige auch die Kriminalitätsstatistik. Hilfe vor Ort sei derzeit das "einzig Richtige und Vernünftige, auf das sich die EU-Kommission jetzt konzentrieren sollte", so Nehammer. Kurz hatte sich im Puls 24-Sommergespräch, das am Sonntagabend ausgestrahlt werden sollte, einmal mehr gegen die freiwillige, zusätzliche Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen in Österreich ausgesprochen. Die internationale Gemeinschaft müsse jetzt "alles dafür tun", um die Situation in dem krisengebeutelten Land zu verbessern, doch Österreich müsse sich auch eingestehen, dass "nicht alles in unserer Macht liegt".

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