Lojze Wieser und seine Vision für Europa
Warum Sprache, Kulinarik und Politik untrennbar zusammengehören.
Man kennt ihn aus Fernsehsendungen wie „Der Geschmack Europas“, durch vielgestaltige Landschaften wandernd, im direkten Austausch mit den dort heimischen Menschen, auf der Suche nach regionsspezifischen kulinarischen Schmankerln und traditionellen Rezepten: den Verleger Lojze Wieser. Der 1954 geborene Kärntner-Slowene lebt in Klagenfurt/Celovec, genauer gesagt: in Europa. Dort gründete er mittlerweile vor rund 35 Jahren den Wieser-Verlag, mit der Intention, literarische Übersetzungen aus den Sprachen des europäischen Südens und Ostens ins Deutsche zu fördern – für eine bessere Verständigung zwischen den Menschen.
Mit Selbstverständlichkeit erklärt Lojze Wieser, dass seine zwei großen Leidenschaften – die Literatur und die Kulinarik – für ihn untrennbar zusammengehören: „Wenn man nix isst, kann man nix machen und wenn man keine Kräfte hat, hat man auch keine Fantasie. Der Spruch ‚Hunger ist der beste Koch‘, ist eigentlich ein Blödsinn“. Dennoch sei gerade der Mangel das Entscheidende, er habe unsere vorlebenden Mütter und Großmütter zu Fantasie und klugem Erfindergeist bewogen: „Sie haben mit einfachsten Zutaten das Leben der Familie garantiert und es dabei so vielseitig ausgestaltet, dass man auch mit den bescheidensten Gerichten zufrieden war“. Beispielhaft gelte der Wilde Chicorée, den die Montenegriner:innen in rund 150 verschiedenen Rezepten auf den Tisch brachten. „Diese höchste Form der Kulturleistung schlägt sich auch in der Sprache nieder – in der Poesie und in der Literatur. Menschen, die so etwas zustande bringen, haben große innere Balance“.
Wie beim Lesen literarischer Werke, so lässt sich auch an traditionellen Gerichten etwas ablesen: „Speisen haben Migrationshintergrund“. Nicht nur lokale, klimatische Veränderungen bedingen neuen Einfallsreichtum in der Küche – mit den Menschen, die sich seit jeher in Bewegung befinden, bewegen sich auch ihre Rezepturen. „Es wäre spannend, sich in die sogenannten Flüchtlingslager von Lesbos bis an die weißrussisch-polnische Grenze zu begeben und zu schauen, womit die Menschen heute versuchen, zu überleben. Wir würden vermutlich die Anfänge von epochalen neuen Rezepturen vorfinden, die in dreißig bis fünfzig Jahren unseren Speiseplan mitgestalten werden. Und man würde erkennen: Diese Menschen tragen die Zukunft in sich“. Unsere Haltung ihnen gegenüber würde sich grundlegend ändern, aus Ablehnung entstünde Neugierde, aus Interesse Verständnis und man würde sehen: „Hiesige und Hergekommene waren schon immer und sind es heute erst recht, die Vorderseite und die Rückseite des Lebens. Und wir würden auch erkennen: einmal ist der vorne, dann der andere…“.
Lojze Wieser denkt Europa daher auch nicht in geopolitischen Grenzen. In der von seinem Verlag herausgegebenen Erfolgsreihe „Europa Erlesen“, in der bereits über 240 Bände erschienen sind, finden sich auch Städte wie Los Angeles, Shanghai oder Beirut. „Hollywood wäre ohne Europäer kein Hollywood und Shanghai wäre ohne die europäischen Flüchtlinge kein Shanghai. Europa wäre aber auch kein Europa, wenn es nicht von Einwanderern bereichert worden wäre“, so hätten wir ohne die Phönizier beispielsweise kein Alphabet. Erst kürzlich hat Wieser den Sammelband „Reset Europe“ (mit Herwig Hösele) herausgegeben – eine Sammlung von Textbeiträgen, die im Rahmen der 9. steirischen Pfingstdialoge erschienen sind. „Wir müssen zurückkehren zu der Idee eines friedlichen Europas, die in der Aufhebung der traditionellen Nationalstaatsbildung gründet“, doch insbesondere seit dem Zerfall Jugoslawiens seien wieder Tendenzen in die entgegengesetzte Richtung erkennbar – in das Erstarken des Nationalismus und des Chauvinismus.
In seiner Verlagsarbeit setzt Wieser auf das Potenzial der Sprache. Mehrsprachigkeit fördere Offenheit gegenüber dem Fremden sowie gegenseitige Verständigung. „Die Sprache ist das Rückgrat jedes Menschen, nimmt man ihm die Kindheitssprache, nimmt man ihm die Sicherheit im Leben und macht ihn dadurch zu einem Opportunisten, der sich anpasst, anstatt aufrecht durchs Leben zu gehen“, sagt Wieser und stellt dabei die Forderung, das Recht auf die eigene Sprache in die Menschenrechtskonvention aufzunehmen – ebenso das Recht auf einen Dolmetscher: „Wenn ich aufs Amt gehe, um dort meine Interessen durchzusetzen, kann ich das nur machen, wenn ich mich in präziser Sprache ausdrücke“. Wieser denkt dabei an die zahlreichen Menschen, die sich auf der Flucht befinden und keine Möglichkeit haben, in den jeweiligen Landessprachen zu kommunizieren.
„Es bräuchte eine Anerkennung jeglicher Sprachen sowie Möglichkeiten, zumindest die Sprachen unserer Nachbarn lernen zu können“, wie es der Verleger von der Politik erwartet, „doch es steht nicht im nationalen Interesse, sprachliche und kulturelle Vielfalt gelten zu lassen, denn das würde die Fantasie fördern und somit jegliche Macht gefährden“. Diese Machtverhältnisse ließen sich auch an der Förderung von literarischen Übersetzungen aus Minderheitensprachen ablesen. So sei der Prozentsatz von Übersetzungen aus südosteuropäischen Sprachen in das Deutsche minimalst, währenddessen achtzig Prozent der Übersetzungen im deutschsprachigen Buchmarkt aus dem anglo-amerikanischen Raum stammen, was ein kulturelles Ungleichgewicht fördere. „Das ist eine bewusst gesetzte Aktion, die im Kolonialismus wurzelt. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Privilegien, die wir Westeuropäer heute haben und verteidigen, Privilegien sind, die die armen Länder finanziert haben und immer noch finanzieren“. Es sei längst an der Zeit, diese Ungerechtigkeiten der Vergangenheit in ein Angebot des Ausgleichs umzuwandeln.
Um einen Schritt in Richtung Gleichgewicht zu machen, trägt Wieser die Vision einer „Europäischen Austauschbibliothek“ in sich: „Wenn wir nur ein Buch aus jeder der rund vierhundert in Europa gesprochenen Sprachen vice versa in alle anderen dieser Sprachen übersetzen würden, würden wir ein Fundament der Verständigung legen, das dem Friedenskontinent näher kommt als alle Resolutionen, die bisher beschlossen worden sind“. Das ist ein langer Weg und verlangt einen langen Atem. Lojze Wieser versteht seine Vision jedenfalls als Beginn dieser neuen Sicht und ist überzeugt, dass sie eine Antwort in der derzeit heillos verfahrenen gesellschaftlichen Situation sei und verweist dabei auf die in Kärnten gemachte Erfahrung: „Vor 40 Jahren gab es keine moderne slowenische Literatur – nicht im Original, nicht in Übersetzung. Mit dem Wachsen beider wurde der nationalistische Konflikt kleiner und mündete in der sogenannten ‚Ortstafellösung‘, der den hundertjährigen Konflikt ins Abseits treten ließ“.
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