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„Wir erleben den ersten großen Informationskrieg“

Matthias C. Kettemann über die mediale Dimension des Ukraine-Krieges. Mit Audio.

Während des Krieges gegen die Ukraine sperrt Russland immer mehr Medien, die nicht im Sinne des Kremls berichten. Vor einigen Tagen wurde laut Medienberichten ein kremlkritischer Radiosender wegen seiner Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine vom Netz genommen. „Der Informationskrieg ist in vollem Gange“, warnte am Dienstag die NGO „Reporter ohne Grenzen“. Präsident Wladimir Putin müsse alle Medien in „Schlachtordnung bringen“, um die Invasion vor der russischen Bevölkerung zu rechtfertigen. Über unabhängigen Journalist:innen liege in Russland eine „bleierne Decke“. Die Wörter „Krieg“, „Angriff“ oder „Invasion“ sind in den Medien verboten. Informationen über Verluste der Armee oder die Moral der Truppen sind seit Oktober letzten Jahres als Verschlusssache eingestuft und werden strafrechtlich verfolgt. Es drohen offenbar bis zu 15 Jahre Haft. Wissenschaftler:innen der Universität Innsbruck beschäftigen sich mit dem Krieg in der Ukraine. Mit einigen von ihnen sprechen wir in den nächsten Tagen über verschiedenste Aspekte des Konflikts. Erster Gesprächspartner ist Prof. Matthias C. Kettemann. Der Internetforscher leitet das Institut für Theorie und Zukunft des Rechts und analysiert für uns die Methoden und Auswirkungen des Informationskriegs im Internet.
Matthias C. Kettemann ist Professor für Innovationsrecht an der Universität Innsbruck. Foto: Uni Innsbruck/Kettemann
Herr Kettemann, beide Seiten versuchen derzeit, den Informationsraum zu dominieren und mit ihrem Narrativ zu füllen. Wie schätzen Sie die Situation ein? Vor allem in Russland: Was weiß die Bevölkerung dort wirklich? Die Ukraine ist zurecht sehr erfolgreich darin, den Eindruck des Westens vom Krieg zu beeinflussen. Das ist ein Teil der informationellen Selbstverteidigung. Die Ukraine schafft es durch einen sehr professionellen Onlineauftritt zu zeigen, welche Verbrechen im Rahmen des russischen Angriffes verübt werden und nutzt die starken Bilder und die starken Geschichten dazu, im Westen Unterstützung  zu schaffen. Die harten Maßnahmen und Sanktionen, die getroffen wurden, lassen sich durch diese Erzählungen auch erklären und haben im Westen eine starke Unterstützung hervorgerufen. Russland ist bei Gegenerzählungen in der Online-Welt derzeit nicht wirklich aktiv und führt keine gute Konfliktkommunikation. Das liegt vor allem daran, dass die russischen Behörden versuchen, die Lage nach innen so darzustellen, als handle es sich nicht um einen Konflikt, sondern nur um eine Sonderoperation. Diese Auslegung kauft die Bevölkerung Russland aber nicht ganz ab. Das erkennt man daran, dass erste Google Trends-Daten zeigen, dass die Leute dort öfter nach Begriffen wie Invasion suchen als nach „Sonderoperation“. Gleichzeitig werden in Russland aktuell die Kommentarspalten von Plattformen abgeschaltet und starke Zensur betrieben. Auch Facebook wurde abgeschaltet. Das zeigt, dass Putin sehr stark dagegen kämpft, dass die Bevölkerung mitbekommt, was da gerade geschieht. Wie sollten die Menschen in Europa und die Entscheidungsträger des Westens mit den ankommenden Informationen umgehen? Man sollte allen Informationen gegenüber kritisch sein. Wenn etwas zu gut klingt, wird es wahrscheinlich nicht stimmen. Ein Beispiel dafür ist die Erzählung über den Geist von Kiew, die scheint etwas übertrieben zu sein. Im Rahmen eines Angriffes sind viele Mittel der Selbstverteidigung möglich und erlaubt und auf jeden Fall auch diese Form der informationellen Selbstverteidigung. Wichtig ist es, Nachrichtenkompetenz, Internetkompetenz und Digitalkompetenz zu zeigen. Man muss wissen wie man mit Bildern umgehen soll, die man sieht und wie man diese überprüfen kann. Da gibt es inzwischen online gute Tutorials um herauszufinden, wann ein Bild wirklich aufgenommen wurde und ob es in der Ostukraine war oder vielleicht doch aus einem anderen Konflikt stammt. Es ist wichtig, nicht alles zu glauben was man sieht und vor allem nicht vorschnell Informationen zu teilen, die man nicht überprüfen kann. Sehen Sie Informationen in diesem Krieg als Waffen? Wir erleben in diesem Angriff Russlands gegen die Ukraine den ersten großen Informationskrieg. Das Internet wird auf eine Art und Weise eingesetzt, die es zuvor nie gegeben hat. Das liegt teilweise an der hochtechnologischen Bevölkerung der Ukraine, die mit Smartphones alles filmen und sofort hochladen kann. Aber auch die ukrainische Regierung ist sehr medienkompetent und in der Lage, die Vorteile sozialer Medien, also die direkte Ansprechbarkeit, die hohe Emotionalität und die Einbettung in leicht wahrnehmbare Kanäle gut einzusetzen. Insofern sind die Informationen Waffen. Auch Russland hat ja versucht, mit eigenen Narrativen dagegen vorzugehen und in den Tagen vor der Invasion die Lage so darzustellen, als würde hier ein Genozid verübt werden, gegen den sie jetzt vorgehen müssten. Die Tatsache, dass diese Erzählungen von den amerikanischen Geheimdiensten vorher aufgedeckt wurden, deuten darauf hin, dass russische Informationen nicht erfolgreich global verbreitet werden und auch nicht als wahrhaftig wahrgenommen werden. Wie beurteilen Sie die Vorgehensweise von Anonymous? Das internationale Hacker-Kollektiv hat Russland den Cyberkrieg erklärt. Welche Möglichkeiten bieten sich diesem Hacker-Netzwerk? Sie hatten zuletzt versucht, die Menschen in Russland über Restaurantbewertungen zu informieren. Private Organisationen oder kooperative Gruppen wie Anonymous können nicht wirklich den Krieg erklären. Das können nur Staaten machen und auch da ist das heute eigentlich nicht mehr üblich. Anonymous organisiert und koordiniert Cyberattacken und führt diese gegen russische Ziele, beispielsweise gegen Websites oder das weißrussische Zugsystem durch. Damit versuchen sie einerseits den russischen Stellen zu zeigen, welche Fähigkeiten sie haben und andererseits dient es der Demoralisierung des Angreifers. Man muss hier stark zwischen rechtmäßigem und unrechtmäßigem Vorgehen unterscheiden. Hacking, also eine Attacke gegen Internetseiten, ist in den meisten Ländern illegal. Man kann also niemandem empfehlen, sich dem anzuschließen. Unproblematisch und sogar sinnvoll ist es aber, wenn man etwa in den Bewertungen russischer Restaurants auf den Krieg hinweist. Auch diese Funktion wurde zum Teil schon abgeschaltet. Es lässt sich also sagen, dass wir hier eine völlig neue Form der globalen Beteiligung haben, eine Art Demokratisierung des Online-Konflikts. Worin lauern die größten Gefahren eines Informations- und Cyberkriegs? Sowohl für die Kriegstreibenden, als auch für Opfer und unbeteiligte Staaten wie Österreich. Weil die Angriffe zwar gut gemeint, aber nicht koordiniert und von staatlicher Seite organisiert sind, können sie zu sehr negativen Effekten für die Stabilität des Internets und dadurch zu einer weiteren Eskalation führen. Putin hat ja schon am dritten Tag des Kriegs auf seine Atomwaffen verwiesen, deswegen sind Cyberangriffe nicht ganz ungefährlich. Attacken von einzelnen Staatsbürger:innen westlicher Länder können durchaus dazu führen, dass es gegen diese Länder, die Arbeitgeber oder die Netzwerke, aus denen die Angriffe kommen, Gegenangriffe aus Russland gibt. Eine große Herausforderung der Onlinesicherheit ist es, dass die Systeme miteinander verbunden sind. In der Vergangenheit kamen einige der Viren und Malware, die gegen die Ukraine eingesetzt wurden, deshalb auch nach Europa. Hier ist auf jeden Fall Vorsicht geboten. Hat sich Ihrer Meinung nach in der aktuellen Situation gezeigt, dass sich der österreichische Krisenjournalismus professionalisiert hat und auch aufrichtiger geworden ist? Der Krisenjournalismus hat in diesem Krieg durchaus bewiesen, dass er besser geworden ist. Neben den klassischen großen Kanälen und Zeitungen hat man aber auch gesehen, dass unabhängige Journalist:innen enorme Resonanz erfahren haben. Sie berichten teils für die großen Kanäle, aber auch direkt über Twitter. Das ist eine neue Form der Konfliktkommunikation, die noch viel Nachhall finden wird. Ich denke, dass wir hier eine neue, demokratischere Form des Kriegsjournalismus und vor allem eine viel größere, parallele Informationswelt sehen. Sekunden nach dem Einschlag einer russischen Rakete gibt es Bilder davon. Damit ist zwar die Herausforderung verbunden, dass diese Bilder erst eingeordnet werden müssen, andererseits hat man aber auch eine sehr große Wissensgrundlage. Diese einzuordnen ist Aufgabe eines professionellen Kriegsjournalismus. Durch die genannten „Bürgerjournalisten“ hat sich aber die Grundlage und vielleicht auch die Konkurrenzlage stark verändert. Die Menschen können selbst aus dem Konflikt berichten. Sind soziale Medien in der aktuellen Situation mehr Fluch als Segen? Nirgendwo sonst ist es schwieriger, keiner Propaganda auf den Leim zu gehen. Man kann die Bilder nicht prüfen und die digitale Spreu vom Weizen trennen. Soziale Medien sind in diesem Krieg – wie auch in der Entwicklung der Menschen in der heutigen Gesellschaft – auf jeden Fall viel mehr Segen als Fluch. Die Auswertung der Informationswelten, in denen wir uns bewegen und die Möglichkeit, binnen Sekunden mit Menschen auf der ganzen Welt Kontakt aufzunehmen, sind große Vorteile. Propaganda nicht auf den Leim zu gehen, ist definitiv eine Herausforderung, der man aber durch kritische Mediennutzung begegnen kann und muss. Man darf nicht allen Bildern glauben, die man sieht. Es gibt inzwischen gute digitale Tools, um zwischen echten Bildern und Fakes zu unterscheiden. Mit den Daten der Geolokalisierung kann man etwa nachprüfen, wo ein Bild aufgenommen wurde. Wichtig ist aber immer der Kontext: Wer teilt dieses Bild? Wie kommt es zu mir? Vielleicht aus einer Facebookgruppe? Man kann also die digitale Spreu vom Weizen trennen, muss aber in der Lage sein, das durch entsprechende digitale Kompetenzen zu tun. Gerade die jüngeren Leute saugen diese mit der medialen Muttermilch auf. Man muss im Russland-Ukraine-Konflikt aber festhalten, dass der Anteil an Desinformation relativ gering ist. Das liegt vor allem daran, dass es Russland einfach nicht gelungen ist, eine Gegenerzählung zu entwickeln und die zentralen Narrative weiterhin – durchaus zurecht – aus der Ukraine kommen. Ich sehe hier das Problem, dass wir den Krieg einseitig wahrnehmen. Die meisten Menschen im Westen und vor allem die Nutzer:innen sozialer Medien unterschätzen die nächsten Tage und was da auf uns zukommen wird, weil Bilder von Erfolgen der ukrainischen Truppen eher geteilt werden als jene von Verlusten. Im Westen wird derzeit ein zu rosiges Bild vermittelt. Das ist nicht grundsätzlich schlecht und hebt die Moral der ukrainischen Bevölkerung, die schreckliches Leid zu ertragen hat. Ich hoffe nur, dass es nicht in ein falsches Gefühl der Sicherheit mündet. Wenn die russischen Panzer kommen, können die sozialen Medien nichts tun. Sie können in einem zweiten Schritt informieren und in der Aufarbeitung des Konflikts vor internationalen Strafgerichten helfen.  
Dolomitenstadt-Redakteur Roman Wagner studierte an der FH Joanneum in Graz und ist ein Reporter mit Leib und Seele. 2022 wurde Roman vom Fachmagazin Österreichs Journalist:in unter die Besten „30 unter 30“ gewählt.

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