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Ein Mängelwesen auf der Suche nach Optimierung

Der Mensch definiert sich gern über das, was er nicht ist. Oder noch nicht ist. Oder nicht mehr.

Jeder durchschnittliche Mensch würde im Hoch- oder Weitsprung von einem durchschnittlich begabten Hasen geschlagen, und selbst ein Olympiasieger im Zweihundertmeterlauf wäre in der Regel nicht schnell genug, vor der Attacke eines Nilpferdes zu fliehen. Für den aufrechten Gang braucht ein Mensch nach neun Monaten Tragezeit noch gut ein Jahr, nur um seinen Bewegungsapparat nach wenigen Jahrzehnten mit Titan zu veredeln. Der Mensch ist von Natur aus ein Mängelwesen. Das hat nicht erst Arnold Gehlen erkannt, schon den alten Griechen war das bewusst.

Nach der Erschaffung der sterblichen Wesen ist es an dem Titanen Epimetheus, dem „Nachdenker“, diese mit entsprechenden Eigenschaften, Kräften und Fähigkeiten zu versehen, um sie vor Hitze und Kälte, dem Wechsel der Jahreszeiten sowie vor natürlichen Feinden zu schützen und ihrer jeweiligen Art das Überleben zu sichern. Allerdings wird Epimetheus seinem Namen nicht durch besonderen Weitblick gerecht, vielmehr dadurch, dass er die Konsequenzen seiner Aktionen erst im Nachhinein überlegt, sozusagen erst schießt und dann zielt: Als er nämlich beim Menschen anlangt, hat er all seine Zuwendungen bereits an die Tiere verausgabt.

Nun holt sein Bruder Prometheus, der „Vor-Denker“, im wahrsten Sinne die Kohlen für ihn aus dem Feuer. Er entwendet der Göttin Athene die Weisheit und dem Hephaistos das Feuer, Wissenschaft und Technik würde man heute sagen, um sie den Menschen zum Ausgleich für ihre biologischen Defizite zu übergeben. Prometheus bezahlt den Diebstahl mit entsetzlichen Qualen, der stückweisen Zerstörung seiner Leber durch einen Adler, ein Schaden, den Feuer gewöhnlich nur in Verbindung mit Wasser anzurichten vermag. Prometheus und Epimetheus – eine Art Laurel und Hardy der griechischen Mythologie?

Prometheus und die Seele. Skulptur von August Suter (1887-1965). Foto: EinDao. Wikicommons License 3.0

Im biblischen Schöpfungsbericht hat der Mensch die Suppe, die ihm vom Teufel persönlich eingebrockt wurde, selbst auszulöffeln: „Unter Schmerzen sollst du deine Kinder gebären. Du hast Verlangen nach deinem Mann, er aber wird über dich herrschen“, sprach Gott zur Frau, und „im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen. Staub bist du, zum Staub musst du zurück“, sprach er zum Mann. „Seht, der Mensch ist geworden wie wir. Dass er jetzt nicht noch die Hand ausstreckt, auch vom Baum des Lebens nimmt, davon isst und ewig lebt!“

Allerdings hat Gott diese Aussichten mit dem Versprechen eines Erlösers verbunden, der nach christlichem Glauben vor ungefähr zweitausend Jahren die geschichtliche Bühne betrat. Sind Jesu Tod und Auferstehung ein transhumanistischer Akt? Nicht ganz, denn die angekündigte Wiederkunft Christi, mit der die Apostel noch zu ihren Lebzeiten gerechnet hatten, fand nicht statt und wurde schließlich für den Tag des Jüngsten Gerichts anberaumt. Als Kunstliebhaber aber bin ich fest davon überzeugt, dass es sich durchaus gelohnt hat: Tausende Meisterwerke der Architektur, der Malerei und der Bildhauerei haben uns aus dieser unerfüllten Hoffnung heraus das Warten verkürzt. Kunst ist das Gegenteil von künstlich.

Es gibt allerdings Menschen, denen das alles nicht schnell genug geht. Die Optimierung des Mängelwesens durch virtuelle Realitäten, nanotechnologisch getunte Gehirne, Eugenik und künstliche Intelligenz ist die Antwort der Trans- oder Posthumanisten auf die brennenden Fragen der Aufklärung: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Die Option auf ein ewiges Leben am Jüngsten Tag einzulösen, geht sich angesichts drohender Katastrophen vielleicht schon zu ihren Lebzeiten aus. Doch keine Sorge: Niemand, der eine Smartwatch am Handgelenk oder ein Smartphone im Hosensack trägt, ist ein Cyborg, und niemand, der einen Rollstuhl oder einen Sprachcomputer benutzt, ist deshalb ein Transhumanist. Das sage nicht ich, das hat Stephen Hawking gesagt.

Der Mensch ist das einzige Wesen, das „Ich“ zu sich sagt und sich seiner selbst durch sein Ich vergewissert. Doch das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus. Das war die Kränkung, die Sigmund Freud dem menschlichen Selbstbild zugefügt hat – nach Darwins Lehre, dass der Mensch nicht von Gott, sondern vom Affen abstammt. Letzteres war – nach der evolutionären Erkenntnistheorie – aber nur möglich, weil auch der Affe über Vernunft und die Fähigkeit, vor jeder Erfahrung synthetische Urteile a priori zu fällen, verfügt: „Ein Affe, der sich von dem Ast, auf den er springen wollte, keine richtige Vorstellung machte, wäre schnell ein toter Affe gewesen und zählte zu unseren Vorfahren nicht.“

„Der Mensch ist ein Affe“ ist ein synthetisches Urteil a posteriori. Ein solches setzt Erfahrung voraus. Nicht über mich, sondern über den anderen. Der Mensch ist das einzige Wesen, das „Du“ sagen kann. Natürlich stammt der Mensch nicht vom Affen ab. Die Frage nach der Verbindung aber hat Konrad Lorenz einst so beantwortet: „Das Missing Link zwischen dem Affen und dem wahren Menschen sind wir.“

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

8 Postings

Claudia Moser
vor 2 Jahren

"Tausende Meisterwerke der Architektur, der Malerei und der Bildhauerei haben uns aus dieser unerfüllten Hoffnung das Warten verkürzt". Poetischer kann man das nicht (be)schreiben!

 
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c.haplin
vor 2 Jahren

Geniale Überschrift (natürlich auch genialer Text!) die mich verstehen lässt, warum wir unseren Planeten an die Wand fahren! Sie haben vollkommen Recht, dass es manchen nicht schnell genug geht. Ein toller Raum zur Selbstreflexion den Sie uns da eröffnen - man trifft dort drinnen halt leider wenige zu denen man dan DU sagen könnte.

 
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    r.ingruber
    vor 2 Jahren

    Würde Ihnen gerne das Duwort anbieten!

     
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      c.haplin
      vor 2 Jahren

      Du, da dank ich ich Dir!

       
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    Photon 07
    vor 2 Jahren

    dan, sag ich mal gute Nacht.

     
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      Herr_Ethiker
      vor 2 Jahren

      @Photon07 Wird das jetzt dem Maßstab des/der feinen Herrn/Frau gerecht?

      Auf jeden Fall großes Lob an Herrn Ingruber für den Artikel.

       
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amRande
vor 2 Jahren

Bestechende Reflexion! Kompliment Rudi!

 
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Nikolaus F. Pedarnig
vor 2 Jahren

Sagt ein Aff' zum anderen: "Mit dem Pinsel auf die Leinwand zu klecksen, das kann ja jeder Aff'. "

 
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