SPÖ und NEOS positionieren sich gegen den Vorstoß von Bundeskanzler Christian Stocker (ÖVP) für eine Veränderung der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Migrationsbereich. Die Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im Nationalrat, Petra Bayr (SPÖ), bezeichnete ihn gegenüber der APA als „sehr problematisch“, ihre NEOS-Kollegin Stephanie Krisper schrieb am Dienstag auf BlueSky von einem „Alleingang“.

„Ich finde den Vorstoß sehr problematisch, weil er in letzter Konsequenz die Glaubwürdigkeit von Höchstgerichten unterminiert“, betonte Bayr gegenüber der APA. „Natürlich soll man mit Gerichten über ihre Rechtsprechung diskutieren können, aber im besten Fall nicht öffentlich. An der Unabhängigkeit der Rechtsprechung ist für mich nicht zu rütteln.“
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sei „Grundbaustein der Menschenrechtsgesetzgebung“, so Bayr. Die Auslegung der Konvention „ist den Gerichten, speziell dem EGMR, vorbehalten“, unterstrich Bayr. Sie ist auch Vorsitzende jenes Ausschusses in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, der Hearings über angehende EGMR-Richter abhält.
„Politische Zurufe an unabhängige Gerichte fehl am Platz“
Krisper betonte ebenfalls, dass der EGMR auf Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention urteile, „zu deren Wahrung sich alle 46 Mitgliedsstaaten inklusive Österreich verpflichtet haben“. „Beim Vorstoß von Bundeskanzler Christian Stocker handelt es sich um einen Alleingang. Aus NEOS-Sicht sind politische Zurufe an unabhängige Gerichte fehl am Platz“, betonte die stellvertretende Klubobfrau. „An völkerrechtlich eingegangenen Verpflichtungen, bei denen sehr wohl Ermessensspielraum besteht, der sich wandelt, und an rechtsstaatlichen Prinzipien darf nicht gerüttelt werden!“
Dagegen stellte sich Europaministerin Claudia Plakolm (ÖVP) hinter die von Stocker und acht EU-Amtskolleginnen und -Amtskollegen angeregte Diskussion. Die Asyl- und Migrationspolitik funktioniere nur, wenn es die Möglichkeit gebe, straffällige Asylwerber abschieben zu können, sagte sie am Dienstag am Rande eines EU-Ministertreffens in Brüssel. „Aufgrund der EMRK sind uns die Hände gebunden“, so Plakolm mit Blick auf das Rechtsdokument, das Teil der österreichischen Verfassung ist.
FPÖ sieht „Heuchelei“ und Abschieben von Verantwortung
Unterstützung für den Vorstoß kam indes von der FPÖ, die der Kanzlerpartei gleichwohl „Doppelmoral und Heuchelei“ vorwarf. Europaabgeordnete Petra Steger (FPÖ) erinnerte am Dienstag in einer Aussendung daran, dass auch die ÖVP vor sechs Jahren einen Vorschlag des damaligen Innenministers Herbert Kickl (FPÖ) zur Weiterentwicklung der EMRK „mit Entrüstung und kategorischer Ablehnung beantwortet“ habe. „Umso erstaunlicher ist jetzt die 180-Grad-Wende der ÖVP, die plötzlich selbst eine Neuinterpretation der EMRK durch die Gerichte fordert“, so Steger. Die ÖVP schiebe nun die Verantwortung auf die Gerichte ab, weil sie „selbst zu feige ist, eine klare politische Haltung zu beziehen“. In erster Linie sei nämlich der Gesetzgeber verpflichtet, „einen klaren rechtlichen Rahmen zu schaffen, der eine wirksame sowie konsequente Asylpolitik ermöglicht“.
Europarats-Generalsekretär wies Initiative von neun Staaten scharf zurück
Neun EU-Staaten haben in der Vorwoche in einem gemeinsamen Brief dazu aufgerufen, die Auslegung der EMRK zu ändern, damit ausländische Straftäter leichter ausgewiesen werden können. Der von Dänemark und Italien gestarteten Initiative hat sich auch Bundeskanzler Stocker angeschlossen. „Wir sollten auf nationaler Ebene mehr Spielraum haben, um zu entscheiden, wann wir kriminelle Ausländer ausweisen“, so Stocker.
Der Generalsekretär des Europarates, Alain Berset, reagierte mit scharfer Kritik auf den Vorstoß. „Der Gerichtshof darf nicht als Waffe eingesetzt werden - weder gegen Regierungen noch von ihnen“, betonte der Schweizer Sozialdemokrat am Wochenende. „In einer Gesellschaft, die von Rechtsstaatlichkeit geprägt ist, sollte keine Justiz unter politischen Druck geraten. Institutionen, die die Grundrechte schützen, dürfen sich nicht den politischen Zyklen beugen. Wenn sie es doch tun, riskieren wir, genau die Stabilität zu untergraben, die sie gewährleisten sollen.“
3 Postings
Ich denke, das Problem hier zwischen von Gerichten aufgestellten Maßstäben individueller Menschenrechte und fehlender Deckung durch den Willen einer politischen Mehrheit, wird in den kommenden Jahren noch viel massiver werden. Dafür sorgen alleine schon die Grenzen der Leistungsfähigkeit. Schon klar, Grundrechte sind Minderheitenrechte, um sich gegen die entscheidende Mehrheit zu wehren. Aber auch als Grundrechtsverfechter muss man erkennen, dass es nicht genügt, sie im luftleeren Raum zu definieren, sondern man sich auch zu tatsächlichen Grenzen des möglichen oder einer faktisch überwältigenden Mehrheit verhalten muss, die schlicht sagt "Das möchten wir so nicht" Wenn nun Kassen knapper werden und das Sicherheitsgefühl abnimmt, muss man sich schon fragen, ob nicht auch Verfassungsinterpretationen dem Wandel zugänglich ist!
Die Justiz hat wohl bei der Politik mitzureden, nicht aber die Politik bei der Justiz. Sonst sind wir rasch wieder bei der Rechtauffasung Kickls " das Recht hat der Politik und nicht umgekehrt zu folgen " . Sicher ist es fragwürdig wenn die Justiz zum Gesetzgeber wird, zT weil die Politik säumig ist wie bei der Eheschließung Gleichgeschlechtlicher bei uns, bzw. wenn der konservative US supreme court den US Präsidenten mit weitestgehenden Immunitätsrechten ausstattet, bzw. möglichen Verschärfungen bei den Abtreibungsgesetzen. Das amerikanische Rechtssytem, das keine Verfassung im unseren Sinne kennt, ist mit unserem allerdings schwer vergleichbar. Das stark plebiszitär ausgerichtete Staatsmodell Kickls hätte mit dem Instrument forcierter Volksabstimmungen mit unmittelbaren Einfluß auf die Gesetzgebung ( und offen für allerlei Kampagnen ) unser Rechtssystem in seinem Sinne verändert. Trumps "project 2025" geht jetzt ebenso konsequent auf die Aufhebung der Gewaltenteilung zu. Natürlich dürfen und sollen auch Entscheidungen von Gerichthöfen diskutiert werden, ein Raum für Interpretationen müsste auch unter Beachtung unverrückbarer Prinzipen der Menschenrechte immer gegeben sein.
Allzu abwegig ist es aber nicht, über die Interpretationen des EGMR zu diskutieren. Diese Auslegungen gehen mittlerweile so weit, dass man nahe an das amerikanische Common-Law-System herankommt - wo Richter durch Präzedenzfälle selbst Recht schaffen. So wird beispielsweise aus dem Art. 8 (1) der EMRK, der wörtlich "Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz." lautet abgeleitet, dass Asylberechtigte unbedingten Anspruch auf Familiennachzug haben, obwohl das weder für Inländer noch für EU-Ausländer oder sonstige Drittstaatsangehörige so ausgelegt wird. Diese müssen Einkommensnachweise etc. bringen.
Man wird feststellen, dass die Wörter "Asyl" oder "Familiennachzug" in diesem Auszug nicht vorkommen. Natürlich sind Rechtsquellen immer allgemein gehalten, und derartige wie die EMRK noch mehr, weswegen eine Interpretation immer erforderlich ist. Aber es ist schon diskutabel, ob derartige permanente Auslegungen von Dingen, die mit keinem Wort erwähnt werden unserem europäischen Verständnis der Gewaltenteilung entsprechen. Recht zu schaffen ist hier - im Gegensatz zum Common Law -System - ausschließlich der Legislative vorbehalten.
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