Die Krippe
der Exoten
Die Krippe der Exoten
Vor 20 Jahren begann Wilhelm Rainer, Figuren für einen befreundeten Pfarrer aus Bocholt zu schnitzen. Jedes Jahr entstand eine neue Krippenfigur für die Kirche. In diesem Jahr vollendet der Schnitzer seine Arbeit mit einer letzten Figur.

Diese ganz besonderen Krippenfiguren stammen aus Wilhelms Werkstatt und sind weit gereist – nun sind sie jedes Jahr zu Weihnachten in der St. Bernhard Kirche in Bocholt, an der deutsch-niederländischen Grenze, zu sehen.

Fährt man durch Innervillgraten, sticht schon von der Straße aus ein Haus, oder besser gesagt ein Hof, besonders ins Auge: In großen weißen Lettern steht darauf „Grüß Gott“ geschrieben. Dieser Schriftzug hat eine besondere Geschichte, die wir bald noch erfahren sollen. Es ist aber nicht der „Grüß-Gott-Bauernhof“, der heute unser Ziel ist, sondern eines der Nachbarhäuser. Die Eingangstür öffnet sich und offenbart die dahinterliegenden Räume. Drinnen duftet es herrlich nach frischem Holz. Hier befindet sich nämlich die Werkstatt von Bildhauer Wilhelm Rainer.

In ebendieser Werkstatt heißt uns der Schnitzer herzlich willkommen. Es ist ein freundlicher Raum, hell, und in jeder Ecke entdeckt man Figuren. Neben Heiligenfiguren, Kreuzen und der einen oder anderen kreativen Spielerei stechen auch ein paar Krippenfiguren ins Auge. Deshalb sind wir eigentlich auch hier, um mit Wilhelm über seine Krippenfiguren zu sprechen. Besagte Figuren befinden sich allerdings nicht in der Werkstatt in Innervillgraten, sondern in der St. Bernhard Kirche in Bocholt, an der deutsch-niederländischen Grenze. Sie unterscheiden sich auch deutlich von den Figuren, die in den meisten Osttiroler Weihnachtskrippen stehen. Zunächst einmal sind sie 80 Zentimeter groß und tragen textile Kleidung. Und wer sich Hirten und Schafe, Ochs und Esel und die Weisen aus dem Morgenland erwartet, hat recht. Aber nicht ganz. Das Jesuskind bekommt bei dieser Krippe auch noch anderen Besuch: Ein UN-Soldat, eine Prostituierte, ein Punk mit Gitarre, eine muslimische Frau mit Kind, ein Bub, der im Rollstuhl sitzt, ein Ziegenbock, der sich sträubt, ein Jude, der mit einem Palästinenser befreundet ist – sie alle haben sich auf den Weg gemacht, um beim Christkind „Trost zu suchen“.

Zuerst werden die Figuren an der Werkbank „grob angehauen“. Am Tisch beim Fenster macht der Schnitzer dann die Feinarbeit. Allerdings nicht bei allen Figuren: „Manche gefallen mir im Rohzustand schon so gut, dass sie dann so bleiben“, erklärt Wilhelm.

Die Idee für die Figuren stammt eigentlich von Karl-Heinz Wielens. Er ist Pfarrer in der St. Bernhard Kirche und verbringt seine Urlaube schon seit über 50 Jahren in Innervillgraten. Wilhelm und er lernten sich schon als junge Burschen kennen. „Schon als Karl-Heinz noch Student war, haben wir uns getroffen und im Gasthaus ein Gläschen miteinander getrunken. Auch gemeinsam gesungen haben wir früher.“ Auch in den Folgejahren, als Karl-Heinz mit Jugendgruppen nach Osttirol reiste, hielt die Freundschaft weiter an und in den 1990er-Jahren trat der Pfarrer mit einem Auftrag an Wilhelm heran: „Er hatte bereits ein paar solcher bekleideten Figuren, wollte sie um Neue ergänzen – dafür hatte er schon einige Ideen. Ich machte das gerne und so redeten wir uns zusammen.“ Fortan schnitzte Wilhelm in jedem Jahr eine, manchmal auch zwei neue Figuren, die er immer pünktlich zum Weihnachtsfest nach Bocholt schickte. „Manchmal war es schon ein bisschen knapp, aber es ist immer alles noch rechtzeitig angekommen.“

Die Kleidung der Figuren wird ebenfalls in Innervillgraten von einer Näherin aus dem Dorf hergestellt. Und wie lange sitzt Wilhelm an so einer Figur? „Schon a Weil“, erzählt er. „Es kann ein paar Tage dauern, manchmal auch eine Woche, das ist ganz verschieden. Zwischendurch steht man schon mal auf und macht etwas anderes.“ Um die 15 Figuren hat Wilhelm schon für die Krippe geschnitzt, in diesem Jahr wird er die voraussichtlich letzte Figur machen. „Es wird der Papst Franziskus, kniend vor dem Jesuskind.“ Wann er damit anfangen will? Eigentlich sei es schon höchste Zeit, lacht der Schnitzer. „Ich habe schon einiges an Unterlagen gesammelt. Man soll den Papst ja auch erkennen“, erklärt er. Mit dem Schnitzen selbst wird er bald beginnen – zu Weihnachten muss die Figur in Bocholt sein.

Der Schnitzer in seiner Werkstatt. Nicht nur Figuren entstehen hier, sondern auch Spielereien wie etwa ein „Bauern-Roulette.“
Wilhelm hat seine Werkstatt inzwischen an seine Tochter Anna übergeben, die Glasbläserin ist. Mit ihr teilt er sich die Räumlichkeiten. Auch mit dabei: Enkelin Elsa.

Im vergangenen Winter reiste Wilhelm mit seiner Familie selbst nach Norddeutschland und besuchte die St. Bernhard Kirche. Er erzählt von der Messe, an deren Ende Karl-Heinz darauf hingewiesen habe, dass sich der Schnitzer der Krippenfiguren unter den Besuchern befände, woraufhin die Leute applaudierten. Ein ganz besonderes Erlebnis war es auch, die Krippenfiguren alle gemeinsam und in Aktion zu sehen. „Das war schön. Das hat mir sehr gut gefallen.“ Auf die Frage, ob er sich eine solch ungewöhnliche Krippe auch in einer Osttiroler Kirche vorstellen könne, findet Wilhelm schnell eine Antwort: „Freilich!“

Dabei gibt sich Wilhelm äußerst bescheiden „Schnitzen ist einfach“, erklärt er. „Man muss nur wegnehmen, was weggehört.“ Dieser Zugang zur Schnitzarbeit klingt beinahe philosophisch. Der 77-Jährige verbringt auch heute noch einen Großteil seiner Tage in der Werkstatt. 1961 begann er, seinen Beruf zu erlernen. Nicht das leichteste Brot, wie er erzählt. „Es war schon oft hart.“ War vor allem in den siebziger und achtziger Jahren die Nachfrage nach handgeschnitzten Arbeiten noch größer, sind es heute eher Produkte aus Massenfertigung, die in den Einkaufswägen landen. „Schnitzer gibt es schon noch einige hier in Osttirol, aber ob die so lange durchhalten, wie ich?“, fragt sich der Innervillgrater. Seine Werkstatt hat er inzwischen an seine Tochter Anna übergeben – einen Raum weiter gelangt man in ihre Glasbläserwerkstatt. „Ich habe aber noch einiges vor“, erklärt Wilhelm, der unermüdlich an neuen Schnitzereien arbeitet.

Der Grüß-Gott-Bauer

Ein Bauernhof in Innervillgraten begrüßt Passanten mit einem geschriebenen „Grüß Gott“. Wie es dazu kam.

Neben unserem Gespräch über Schnitzereien und Krippenfiguren bleibt noch eine letzte Frage: Was hat es eigentlich mit dem benachbarten Grüß-Gott-Bauernhof auf sich? Wilhelm kann uns mehr darüber erzählen – der Hof gehörte nämlich seinem Vater. Wilhelms Vater war es, der den Schriftzug an seinem Balkon anbrachte, als die Zeit des Nationalsozialismus in Österreich begann. „Als Protest“, erklärt Wilhelm. Der „Grüß-Gott-Bauer“, wie er fortan genannt wurde, konnte sich nämlich nicht mit dem Hitlergruß anfreunden, der zu dieser Zeit aufkam. „Das kam aber ganz und gar nicht gut an.“ Das Augenmerk der GESTAPO lag ohnehin schon auf Innervillgraten, weil die Gemeinde österreichweit prozentual die meisten Gegenstimmen bei der Volksabstimmung von 1938 verzeichnete – ein Viertel der Einwohner stimmte gegen den Anschluss an Hitlerdeutschland. So musste auch Wilhelms Vater viel Angst erleiden.

„Diesmal holen sie mich ab“, hat er immer gesagt, wenn die GESTAPO-Leute wieder vorbeigefahren sind“, erzählt Wilhelm. Allerdings kam sein Vater mit dem Schrecken davon. Nach dessen Tod im Jahre 1981 sei die Geschichte im Zuge der „Waldheim-Debatte“ aufgearbeitet worden. „Schade, dass er das nicht mehr erlebt hat, das hätte ihn sicher sehr gefreut“, meint Wilhelm. Der Bauernhof mit dem markanten Schriftzug ging später in den Besitz von Wilhelms ältesten Bruder über, der ihn inzwischen an seinen Neffen – Wilhelms ältesten Sohn – übergeben hat. „Er ist jetzt der neue Grüß-Gott-Bauer.“

Kein Ort der „Wohlfühligkeit“

Karl-Heinz Wielens, Pfarrer in Bocholt und Initiator dieser besonderen Krippe, verrät seine Gedanken zu den Figuren.

Karl-Heinz Wielens inmitten einer kleinen Auswahl seiner Osttiroler Krippenfiguren. „In all den Jahren sind sie mir alle wichtig geworden und ans Herz gewachsen.“

DOLOMITENSTADT: Wie können wir uns Ihre Pfarre vorstellen? Erzählen Sie uns etwas über Ihre Kirche und die Kirchengemeinschaft. Wie ist der Stadtteil, in dem sie liegt, wie sind die Leute, die herkommen?

Karl-Heinz Wielens: Zu unserer Gemeinde St. Bernhard gehören nach der Fusion 2011 vier Kirchen und circa 6.000 Katholiken. Der heilige St. Bernhard ist der Patron der Imker und Bienen. Bienen sind nicht nur fleißig und ein geselliges Volk; sie sind außerordentlich intelligent und gemeinschaftsstiftend. Beispiel: Immer sind einige Bienen vor dem Einflugsloch in den Bienenkorb ununterbrochen im „Schwirrflug“ und sorgen somit für eine gleichbleibende Temperatur im Korb – sprich für ein immer gutes Klima. Wir Menschen machen das nicht und könnten uns das von den winzigen Lebewesen abschauen … Unser Stadtteil ist Stadtrand im Westen von Bocholt und grenzt direkt an die Niederlande. Der Kontakt zu Holland ist unverzichtbar und belebend …

Warum haben Sie beschlossen, die Krippe um diese – doch sehr speziellen – Figuren zu erweitern?

Eine Krippe ist ein Ort der Verkündigung christlicher Botschaft. Sie verkündet deren Kern und ist alles andere als ein Ort der „Wohlfühligkeit“, der Sentimentalität und des Wohlbefindens. So hat sich die Bedeutung der Krippe zur Harmlosigkeit und Ungefährlichkeit entwickelt. Menschen bei uns brauchen zu Weihnachten den Gefühlsdusel: „Kling, Glöckchen, klingelingeling … – Holder Knabe im lockigen Haar – Süßer die Glocken nie klingen …“ Das ist eine völlig falsche Romantik! Mit dem Weihnachtsgeschehen hat das nichts zu tun! In aller Ausgesetztheit und in aller Unwillkommenheit wird Gott selber Mensch, nicht von oben herab! Weihnachten – Gott geht in die Knie. Die Figuren auf der Krippe sind allesamt Figuren, die gegen die „Wohlfühligkeit“ protestieren, die nicht einverstanden sind mit all den Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft – damals wie heute. Jede der Figuren spricht ihre eigene Sprache, ihren eigenen Protest und vor allem ihre eigene Verehrung und Anbetung des Jesuskindes. Natürlich aus der eigenen leidvollen Unrechtserfahrung heraus. Mit diesem Kind und seinen Eltern wissen sie sich zutiefst verbunden.

Wie wird die Krippe aufgenommen? Gab es auch Figuren, die beim Publikum nicht gut angekommen sind? Oder welche, die besonders gut ankamen?

Nein, bislang nicht. Alle Figuren sind gut angekommen. Gott sei Dank! Im Gegenteil – Jedes Jahr, wenn wieder eine neue Figur auf die Krippe kam, waren die Menschen neugierig. Ihre Fragen: „Was hat das nun wiederum zu bedeuten? Irgendetwas werden sie sich gedacht haben, die Initiatoren!“ Und die Erklärungen und Deutungen in meiner Predigt zur neuen Figur haben dann viele Menschen selber zum Nachdenken gebracht. Jede Figur ist ja auch eine „Provokation“.

Auf eine Lieblingsfigur legt sich der Pfarrer nicht gerne fest.
Wenn er sich entscheiden müsste, wären es aber wohl der Clown und der Junge im Rollstuhl.

Haben Sie selbst eine Lieblingsfigur?

Es fällt mir schwer, diese Frage zu beantworten: In all den Jahren sind mir alle Figuren wichtig gewesen und ans Herz gewachsen. Sonst ständen sie nicht auf der Krippe. Aber wenn ich nach all den Jahren nachdenke, sind es zwei, die zu meinen Lieblingsfiguren gehören – der behinderte Junge im Rollstuhl und der Clown. Der Grund: Unsere Krippe ist ein stiller Protest gegen unsere Wohlstands- und Wohlfühligkeitsgesellschaft. Die Armut der Krippe stört gewaltig und wird also gesellschaftlich verdrängt. Der Clown hält uns den Spiegel hin: Wir brauchen nur hineinzuschauen und sehen (und entdecken?) uns selbst. Bin ich das, oder wer bin ich wirklich? Der behinderte, spastisch gelähmte Junge sagt uns deutlich: Du bist gesund! Sei froh! Bist du auch dafür dankbar? Oder ist das für dich selbstverständlich? – Ich kann das nicht vergessen: Ein junges Mädchen im Rollstuhl blieb lange vor der Krippe und hat fassungslos geweint. Mir ist das sehr nahe gegangen.

Papst Franziskus soll als letzte hinzukommende Figur die Krippe vollenden. Wenn noch mehr Figuren dazukommen würden, welche wären das?

Papst Franziskus kommt aus der Armut Lateinamerikas. Was er im Vatikan schon bis jetzt neu inszeniert hat, was er an Machtelementen und -personen ausgehebelt hat, ist bewundernswert. Er scheut keinen Konflikt und ist einfach mutig, vorbildlich und nachahmenswert. Er erinnert an Papst Johannes XXIII. Franziskus hat den Platz auf der Krippe wirklich verdient. Es wird vielleicht noch eine Figur zur Krippe hinzukommen. Das aber wird noch nicht verraten.

Sie gehen demnächst in Pension. Wie sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Ich bin neben meiner theologischen Ausbildung auch studierter Musiker und gelernter Organist und Dirigent. Das alles ist natürlich bislang viel zu kurz gekommen. Ich denke, da besteht ordentlich Nachholbedarf. Außerdem arbeite ich an zwei Veröffentlichungen, deren Fertigstellung liegengeblieben ist. Über Langeweile werde ich – so glaube ich – nicht zu klagen haben.

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