Flucht in die
Hoffnungslosigkeit
Flucht in die Hoffnungslosigkeit
Jedes Jahr im Juni erinnert eine Feier in der Peggetz an die Tragödie der Kosaken.

Lienz hat heute 12.000 Einwohner. 1945 waren es 8.000. Im Frühling dieses Jahres war der Zweite Weltkrieg längst entschieden, aber noch nicht zu Ende.

Am 26. April, nur zwei Wochen vor der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht, verwüsten US-Fliegerbomben den Bahnhof und die Innenstadt der Osttiroler Bezirkshauptstadt. Etwa zur gleichen Zeit macht sich ein Tross von rund 35.000 Menschen im oberitalienischen Friaul auf den Weg in Richtung Plöckenpass, schnauzbärtige Soldaten mit tausenden Pferden, begleitet von Frauen, Kindern, Alten, Schwangeren, ein Zug von Gestrandeten des Krieges, der sich die Serpentinen zur Passhöhe hochschlängelt: Es sind Kosaken mit ihren Familien, auf der Flucht vor der Rache italienischer Widerstandskämpfer, die sie in den Jahren zuvor mit großer Härte bekämpft hatten. Am 3. Mai erreicht der viele Kilometer lange Treck die Passhöhe. Eine Gruppe von Soldaten zieht einen alten schwarzen Fiat hinter sich her, in ihm sitzt der greise Kosakengeneral Krasnow mit seiner Frau. Noch einmal ist der Winter zurückgekehrt, es schneit und die Flüchtlinge frieren.

Was einen Monat später als Kosakentragödie an der Drau in die Geschichtsbücher einging, nahm seinen Ausgang bereits 1917 während der russischen Revolution. Damals kämpften viele Kosaken in der „Weißen Armee“ gegen die „Roten“, die Armee der Bolschewiken. Sie verloren diesen Kampf, spürten in den folgenden Jahrzehnten Stalins Härte mit voller Wucht und sahen in Hitlers Machtrausch eine Chance, das sowjetische Joch loszuwerden. Die Kosakenkämpfer gingen unter deutschem Befehl kompromisslos gegen jugoslawische Tito-Partisanen vor.  In ihrem Sog machten sich auch ihre Familien auf den Weg, aus der ursprünglichen Heimat an den Ufern des Don und am Schwarzen Meer über Polen nach Kroatien und später, im Herbst 1944, weiter nach Nordwesten, in die italienischen Alpen, wo man ihnen eine dauerhafte Ansiedlung in Aussicht stellte. Doch das Blatt hatte sich längst gewendet. Im Februar 1945 saßen die alliierten Staatschefs Winston Churchill, Franklin D. Roosevelt und Josef Stalin in Jalta zusammen, um die Nachkriegsordnung zu diskutieren. Der Krieg lag in den letzten Zügen, jetzt wurden Europa und die Macht verteilt. So besiegelten die Sieger in diesen Februartagen im Badeort auf der Krim bereits das Schicksal jener Menschen, die drei Monate später in der Ebene des Lienzer Beckens ankamen und von der Aussichtslosigkeit ihrer Flucht noch nichts ahnten.

Zur selben Zeit legten US-Fliegerbomben Bahnhof und Innenstadt von Lienz in Schutt und Asche, nur wenige Tage vor Kriegsende.

Es ist kaum vorstellbar, was sich auf den Wiesen und Feldern östlich von Lienz damals abspielte. Wo heute der „Durst-Kristall“ und die riesigen Liebherr-Hallen stehen, lagerten so weit das Auge reichte buchstäblich Heerscharen – eine Reiterarmee mit 5000 Pferden und krieggestählten Soldaten mit Handgranaten am Koppel, Fellmützen auf dem Kopf und anfangs noch voll bewaffnet. Mit den erschöpften Kriegern kamen tausende Frauen und Kinder, von Hunger, Kälte und einem Gewaltmarsch gezeichnet.

Praktisch zeitgleich marschierte eine andere, ebenfalls ungewöhnliche Truppe in Lienz ein, feierlich empfangen von der Stadtführung: die vorwiegend aus Glasgow stammenden Soldaten vom schottischen 8. Regiment der Argyll and Sutherland Highlanders. Sie bezogen in der Franz-Josefs-Kaserne Quartier, kommandiert vom erst 25 Jahre alten Major Davis, der zu einer tragischen Schlüsselfigur des Kosakendramas werden sollte.

Für drei Wochen richteten die Kosaken eine Art russische Enklave ein, mit Schule, Gottesdienst und sogar einer eigenen Zeitung. Es war ein Stück Russland am Ufer der Drau, am Ende eines langen Weges. Sie fühlten sich von den Briten, denen sie sich ergeben hatten,  beschützt. Viele träumten von Kanada und Australien, von einem sicheren Leben. Doch ihr Schicksal war längst besiegelt. Vermutlich im Tausch gegen die Rückführung eigener Soldaten aus sowjetischer Gefangenschaft hatten die Engländer bereits in Jalta der Übergabe russischer Gefangener an die Rote Armee zugestimmt. In der Peggetz wurde aus diesem Abkommen eine schreckliche Tragödie, eingeleitet von einer militärischen Finte. Unter dem Vorwand, in Spittal an der Drau finde eine Konferenz über die Zukunft der Kosakenflüchtlinge statt, trennten die Briten am 28. Mai das Fußvolk von seiner Führung. 1500 kosakische Offiziere bestiegen freiwillig und ohne die geringste Vorahnung den Zug ins Verderben. Er hielt nicht in Spittal, sondern fuhr ohne Stopp weiter ins steirische Judenburg, wo die britische an die sowjetische Besatzungszone grenzte. Die Waggons rollten über eine Brücke. Am anderen Ufer der Mur wartete auf die Insassen das Todesurteil oder Zwangsarbeit im sibirischen Gulag.

Ein Heerlager der Kosaken.

In den Lagern der Kosaken an der Drau machte sich in der Zwischenzeit  Verzweiflung breit. Die Offiziere kehrten nicht zurück, ihre Soldaten und die tausenden Zivilisten begannen zu ahnen, dass ihnen übel mitgespielt wurde. Am 1. Juni fuhr Major Davis in einem Jeep vor und verkündete den verängstigten Menschen über Lautsprecher, dass sie nun in ihre Heimat zurückkehren würden.

Ihm selbst war vermutlich nicht klar, was  dieser Befehl auslösen würde. Die Betroffenen wussten sofort, was auf sie zukam. Todesangst machte sich breit, Panik, ein Szenario schrecklichster Verzweiflung. Zurück nach Russland? Das bedeutete Gulag, Verbannung nach Sibirien oder Tod durch den Strang, Trennung von den Kindern, Aussichtslosigkeit in jeder Hinsicht. In einem „Hörbild“ des Radiosenders Ö1 schildern Zeitzeugen die Szenen von damals: „Die Kosaken bildeten einen Ring, sie beteten und sangen. Immer größer wurde die Angst, sie rückten immer enger zusammen, Frauen, Kinder und Alte in die Mitte.“ Vor tausenden Zelten wehten schwarze Fahnen, Priester nahmen die Beichte ab. Als klar wurde, dass diese Menschen niemals freiwillig auf die bereitgestellten Viehwaggons steigen würden, setzten die britischen Soldaten ihre Gewehrkolben, Knüppel und Bajonette ein. Schüsse fielen, es gab die ersten Toten. Menschen sprangen in die Hochwasser führende Drau, begingen Selbstmord, wurden tot getrampelt, versuchten zu fliehen. Herrenlose Pferde galoppierten über die Felder, blutverschmierte Kinder suchten nach ihren Eltern. Nach vier Stunden waren 1252 Kosaken verladen. Die Engländer machten weiter, suchten auch nach entlaufenen und von den Kosaken spontan weggegebenen Kindern. Es dauerte wenige Wochen, bis zigtausende Menschen  in den Zügen abtransportiert waren, deportiert nach Sibirien, was für die meisten den Tod bedeutete.

Die schottischen Truppen in der Franz-Josefs-Kaserne.

Weltgeschichtlich betrachtet war die Kosakentragödie in den österreichischen Alpen nur eine von vielen blutigen Episoden des an schlimmen Dramen reichen Jahres 1945. Später fragten ab und zu Touristen nach dem kleinen „Kosakenfriedhof“ im Lienzer Stadtteil Peggetz. Wohn- und Industriebauten umwuchsen die weißen Marmorkreuze mit kyrillischen Inschriften. Es gab gelegentlich Gedenkveranstaltungen, ab und zu einen Artikel in lokalen Medien, aber kaum überregionale Beachtung für das Thema. Dann machte sich Harald Stadler, in Lienz geborener Universitätsprofessor für Archäologie, mit einer Gruppe junger Studenten im Jahr 2003 auf Spurensuche in den Feldern des Lienzer Beckens. Nach Historikern und Zeithistorikern begannen sich auch Ethnologen für die Kosaken zu interessieren, ebenso das „offizielle“ Lienz.  Es folgten Ausstellungen und Kongresse, ein Buch erschien und die alljährliche Gedenkzeremonie Anfang Juni am kleinen Friedhof in der Peggetz fand plötzlich breitere Beachtung.

Archäologen auf der Spur der Zeitgeschichte

Für den Archäologen Stadler ein Schritt in die richtige Richtung. Mehr als 300 Objekte fand er mit seinen Studenten, von Hufeisen und Uniformteilen bis hin zu vier kompletten Panjewagen der gestrandeten Armee, die noch in Scheunen örtlicher Bauern aufgestöbert wurden. Auch Überlebende der Tragödie rücken in den Blickpunkt der Öffentlichkeit, Menschen, die als kleine Kinder das Drama überlebten, von einheimischen Familien großgezogen wurden und noch heute auf der Suche nach ihren Wurzeln und nach Antworten sind. Wie konnte es zu diesem schrecklichen Massaker kommen? Für Zeithistoriker Martin Kofler ist die Opferthematik zwar präsent, aber die Auseinandersetzung mit der Opferproblematik noch in Gang. Das vereinfachte Bild von den „guten Kosaken“ und den „bösen Briten“ ist unscharf. Kofler: „Man muss die Vorgeschichte kennen, um die Ereignisse zu verstehen. Eine Rechtfertigung für die Greueltaten ist das jedoch nicht.“

Digitaler Themenweg und Gedenkkapelle

Anfang Juni findet alljährlich eine Gedenkfeier auf dem kleinen Kosakenfriedhof im Lienzer Stadtteil Peggetz statt. Foto: Brunner.

Der Lienzer Kosakenverein sammelt Spenden,  unter anderem mit Benefizkonzerten, um eine kleine Kosaken-Gedenkkapelle zu errichten. Die Stadt stellt dafür ein Grundstück zur Verfügung.

Literaturtipp zum Thema:
Literaturtipp zum Thema:H. Stadler, M. Kofler, K. Berger: "Flucht in die Hoffnungslosigkeit – Die Kosaken in Osttirol", Studien Verlag, Innsbruck 2005
Credits
  • Fotografie: TAP / Imperial War Museum London

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