Mein Leben,
das Schreiben
Mein Leben, das Schreiben
Aus dem Nähkästchen eines Autors.

Auf einer Lesereise im Herbst saß ich eines Abends einer jungen Buchhändlerin aus Hartberg in der Steiermark gegenüber. Ganz plötzlich fragte sie mich etwas, das mir noch heute im Ohr klingt. Was lieben Sie an Ihrem Beruf am meisten?, erkundigte sie sich. Ich war überrascht, die Frage kam unvermittelt, sie war so ehrlich und schön. Was die junge Dame von mir wissen wollte, ist das, was mich jeden Tag antreibt, was mich niemals stillstehen lässt. Ich habe mir selbst noch nie diese Frage gestellt, trotzdem war die Antwort sofort da. Ich kann alles tun. Mir ist nichts verboten. Mir ist alles erlaubt. Diese drei Sätze kamen aus meinem Mund. Spontan und ohne nachzudenken. Und es fühlte sich gut und richtig an. Sehr gut und sehr richtig.

Als ich zu Schreiben begonnen habe, war ich fünfzehn. Ich habe damit angefangen, weil mir die Welt, in der ich lebte, nicht schön genug war, ich flüchtete mich in Geschichten, in Welten, die ich erschaffen hatte, ich nahm andere Identitäten an, ich wuchs über mich hinaus. Auf dem Papier, in meinen Gedanken. Meine Phantasie war losgelassen. Es war die absolute Freiheit damals, und auch heute noch ist es so. Das Schreiben lässt alles zu, ich kann eintauchen, wo ich will, ich kann schwimmen dort, ich kann ertrinken, ich kann überleben. Ich entscheide. Ob da Tränen sind oder Lachen, ob es ein gutes Ende gibt oder nicht. Ich entwickle Geschichten, erfinde Figuren, gebe ihnen Namen und Biographien, ich lasse sie aufeinandertreffen, ich lasse sie lieben und hassen, ich lenke sie, begleite sie. Meine Helden. Wie sie mir ans Herz wachsen mit der Zeit. Wie vertraut sie mir sind.

Ich habe Germanistik studiert. Vieles von dem, was ich gelernt habe, hat mir geholfen, meine Sprache zu finden, vieles von dem, was ich gelernt habe, ist Unfug. So zum Beispiel der Stehsatz, der sich durch mein Studium gezogen hat: Nichts, was ein Autor schreibt, ist autobiographisch, es sei denn, das Werk ist als Autobiographie gekennzeichnet. Was für ein Unsinn, sage ich. Dieser Satz muss von Menschen stammen, die noch nie eine Zeile geschrieben haben, die noch nie ein Buch lang gefühlt, die noch nie Figuren durch die Hölle begleitet haben. Leid, Trauer, Freude, Glück, Liebe. Wie sollte je ein Autor glaubwürdig über etwas schreiben können, wenn er es nicht fühlt, wenn er sich nicht öffnet, nicht sein Innerstes in seine Bücher jagt, um dort für Leben zu sorgen. Wie soll das gehen? Wie kann ein Autor berühren, wenn er nicht bereit ist, selbst sein Herz zu öffnen. Wie kann man ihn spüren? Ich denke, gute Literatur verlangt danach, sie fordert den Autor heraus, sie will alles von ihm haben.

Es gibt kaum etwas Schöneres für mich, wenn mir BuchhändlerInnen und LeserInnen sagen, dass ich sie berührt habe. Dass sie geweint haben. Dass sie das Buch nicht mehr weglegen konnten. Wenn das passiert, habe ich alles erreicht. Wenn Menschen nach Lesungen zu mir kommen und mir sagen, dass sie gebannt waren, dass sie aus der Buchhandlung nach Hause stürmen wollen, um sofort weiterzulesen. Solche Momente machen mich glücklich, überall spüre ich dann, dass es richtig war, nicht Lehrer zu werden, oder Arzt.

Während meines Studiums haben meine Eltern des Öfteren versucht, mich zu überreden, das doch sein zu lassen mit dem Schreiben, mir einen anderen Beruf zu suchen, etwas Sicheres, etwas, das die Kasse am Monatsende füllt. Schriftsteller zu werden, das war keine Option in dem kleinen Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, dieser Berufswunsch sprengte alles, jahrelang war ich Außenseiter, Spinner, Träumer. Fast so wie der Held meiner Max-Broll-Krimis.

Mit ihm habe ich mir einen Helden erschaffen, den ich mit vielen Eigenschaften von mir bestückt habe. Den verstaubten Germanisten zum Trotz habe ich mir einen Weggefährten erschrieben, einen Begleiter, einen, mit dem ich mühelos und gerne für vier Wochen auf eine Südseeinsel fahren würde. Einen, der mir ähnlich ist.

Max Broll, Outlaw in einem kleinen Tiroler Dorf, einem Dorf, das dem, in dem ich aufgewachsen bin, nicht unähnlich ist. Max hat sein Studium in Wien abgebrochen und ist zurück in sein Heimatdorf gekommen, er hat dort nach dem Tod seines Vaters dessen Job übernommen: Max ist Totengräber.

Er schaufelt Gräber, er kümmert sich um den Friedhof, er ist derjenige im Dorf, den jeder braucht, mit dem aber keiner etwas zu tun haben will. Max ist eine Randfigur im Dorf. Und mittlerweile eine meiner Lieblingsfiguren.

Abende lang habe ich mit ihm verbracht. Mit ihm getrunken, mit ihm gelacht. Allein am Schreibtisch mitten in der Nacht. Nur er und ich. Seine Tränen, wenn in Band zwei seine Geliebte stirbt, sein Lachen, wenn er mit seinem besten Freund Johann Baroni von einem Unsinn in den anderen stolpert. Seine Gefühle. Und meine. Untrennbar miteinander verbunden. Je tiefer ich eintauche, je mehr von mir ich ihm auf den Leib schreibe, desto lebendiger wird er. Er und alle anderen Figuren. Gemeinsam erleben wir die Welt, saugen sie auf, atmen sie ein. Alles steht uns offen. Keine Tür bleibt verschlossen. Und das ist das Zweitschönste: Die Dinge, die ich als Autor lernen darf.

Recherche. Und ich rede hier nicht von den vielen Stunden im Internet, es sind die Gespräche mit den Menschen da draußen. Meine Arbeit macht vor keiner Berufsgruppe halt, ich bekomme Einblicke in mir absolut fremde Welten, ich darf aufregende Dinge erleben, darf ungehemmt neugierig sein. Bei Gerichtsmedizinern, Kriminalbeamten, Schönheitschirurgen, Ämtern, Totengräbern und Bestattern. Oft ist es absolutes Neuland für mich und meine Helden, wir springen kopfüber ins kalte Wasser und lassen uns ein. Das geht so weit, dass ich auch selbst tief unten in einem Grab zu liegen komme.

Um meinen Totengräber Max Broll so authentisch wie möglich zu schildern, war ich auf Friedhöfen unterwegs. Ich habe mit Totengräbern gesprochen und mir Einblicke in ihre Arbeit verschafft. Weil aber Reden alleine oft zu wenig ist und es sich einfach anders anfühlt, wenn man mitanpackt, habe ich selbst zur Schaufel gegriffen und ein Grab ausgehoben. Unter Anleitung des Fachmannes hab ich mich nach unten gegraben, das Grab mit Schalbrettern abgestützt und Erde nach oben geworfen. Stunden vergingen. Ich brauchte doppelt so lange wie der freundliche Kollege, aber ich habe es geschafft, trotz enormer Anstrengung. Das, was Max später in meinen Romanen machen sollte, habe ich zumindest ein Mal selbst erlebt. Die Erde, die Knochen der Verstorbenen, die Enge. Und dann das Gefühl, ganz unten angekommen zu sein.

Max Broll sagt: Das ist der exklusivste Platz der Welt. Hier kommt außer mir niemand lebend hin. Was für ein Ort der Ruhe! Dass ich Max das habe sagen lassen, kommt daher, dass mich in dem Grab der Übermut gepackt hat und ich wissen wollte, wie es sich anfühlt dazuliegen, die Grabwände entlang nach oben zu schauen. Probeliegen, sagt Max. Probegelegen bin auch ich. Über zehn Minuten lang war ich da unten. Ich habe mir die Zukunft meines Helden ausgemalt, mir vorgestellt, wie er mitten in der Nacht hier unten liegt und in die Sterne schaut. Es hat sich gut angefühlt. Echt. So wie in meinen Büchern.

Im Zuge der Max-Broll-Recherchen habe ich auch ein Bestattungsunternehmen kontaktiert. Seit einigen Monaten darf ich dort mitarbeiten. Ich versorge die Verstorbenen, wasche ihre Haare, pflege sie, ziehe sie an. Was anfangs unvorstellbar war, ist mittlerweile vertraut geworden. Meine Angst vor dem Tod wurde kleiner, das Tabu, über das ich in meinen Büchern schreibe, bricht langsam auf. Der Tod wird Teil meines Lebens. Weil ich es zulasse, weil ich mir erlaube, darüber zu reden. Darüber zu schreiben. Auch mit Humor. Weil Humor alles leichter macht.

Mein Leben, mein Schreiben. Es hängt alles zusammen, so viel Erlebtes fließt irgendwo ein, füllt eine Seite, eine Zeile. Erfahrungen, die ich machen durfte, lassen mein Geschriebenes reifen. Dass sich neben einer ständigen sprachlichen Weiterentwicklung auch meine Figuren weiterentwickeln, ist mir wichtig. Dass sie Fleisch haben, Charakter, dass sie einem nahe gehen. So sehr ich es vermeide, Menschen in meinen Büchern zu beschreiben, so sehr liebe ich es, ihnen Gefühle zu geben, Herz, Emotion. Denn nur Emotionen tragen eine Geschichte, treiben eine gute Handlung weiter. Deshalb ist alles, was ich darüber lernen kann, für mein Schreiben essentiell.

Die Welt spüren, das Leben, den Tod.

Credits
  • Autor: Bernhard Aichner
  • Fotografie: Bernhard Aichner

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