In Ephesos und auf Samos meißelten einst zwei Bildhauer je eine Hälfte eines monumentalen Standbilds, und als man die Teile schließlich aneinanderfügte, passten sie haargenau zusammen. So wenigstens berichtet der griechische Historiker Diodor von Sizilien vom Wesen der altägyptischen Bildhauerei. Die Unabhängigkeit der beiden Künstler voneinander war mit der Abhängigkeit von einem sakrosankten Schema erkauft, an das sie sich strengstens zu halten hatten, um das von Anfang an feststehende Ergebnis nicht zu gefährden.
Heute ist es genau umgekehrt: Die Kunst scheint ein System von Abhängigkeiten einzelner Individuen untereinander zu sein, die ihre Freiheit durch die Ablehnung verbindlicher Normen behaupten. Die Übereinkunft, dass Früheres nicht vom Späteren abhängen kann, deutet zumindest die Möglichkeit geschichtlicher Entwicklungen an, die bisweilen auch die Kunst als Fortschritt für sich in Anspruch nimmt. Und sie erklärt die Anklänge an Hans Arp, Henry Moore oder Bruno Gironcoli in Peter Dörflingers Werk.

Kunst im eigentlichen Sinne kennt keinen Fortschritt
Dass die Venus von Willendorf noch heute bewundert wird, ist für Dörflinger ein Indiz, dass Kunst keinen Fortschritt macht und der Mensch seit der Steinzeit nicht größer geworden ist. Der Genetiker wird ihm beipflichten, der Religionswissenschaftler wahrscheinlich nicht. Er wird zu bedenken geben, dass gerade in der Skulptur das menschliche Maß als ein Verhältnis zum Mythos sich ausdrückt, und dass man die Entwicklung vom Animismus, Poly- und Monotheismus zum Christentum durchaus als Fortschritt begreifen kann. Die griechischen Bildhauer hoben in der Regel keine gewöhnlichen Menschen, sondern Götter, Helden und Olympiasieger auf das Podest, Michelangelo, der sich zweitausend Jahre später die antiken Vorbilder zu übertreffen anschickte, David, Moses und Christus.
Auch auf das Projekt der Aufklärung, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen, reagierte die Bildhauerei mit dem Rückgriff auf die griechische Mythologie, bevor in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Fantasie des Kleinbürgers, der sich selbst als Übermensch feierte, die figurative Plastik endgültig vom Sockel stieß und damit ungewollt dem Abstrakten zum Durchbruch verhalf.
Von allen Seiten gleich schön
Apropos Sockel: Die bisweilen aufwändige Unterkonstruktion von Statuen hat nicht nur die Aufgabe, das Dargestellte auszuzeichnen, sondern erst einmal dafür zu sorgen, dass es aufrecht stehenbleibt. In der Steinbildhauerei gestaltet sich das Problem der Statik komplizierter als in anderen Materialien, zumal seit sich das Standbild von seiner Bindung an die Architektur emanzipiert hat und sich dem Kunstbetrachter freistehend von allen Seiten darbietet.
Als gelernter Bootsbauer weiß Dörflinger um die Gesetze der Stabilität und der Balance von Massen. Von einem Schwerpunkt aus entfalten sich seine Formen in den Raum, umfangen ihn und schaffen neue Räume. Der Betrachter ist aufgefordert, um sie herum zu gehen oder die Skulpturen selber in Bewegung zu versetzen. Viele von ihnen ruhen nur auf einem Punkt, um den sie schwerelos rotieren.



Dörflinger, der noch während seiner Ausbildung an der Bundeslehranstalt für Tiefbau beschloss, nie wieder mit anorganischen Baumaterialien, mit Ziegeln und Beton zu arbeiten, war von 1974 bis 1977 der einzige Bootsbaulehrling Österreichs. „Beim Bootsrumpf hast du, abgesehen von der Symmetrie der Längsform, alle Freiheiten“, schwärmt Dörflinger, der sich auch nach vierzig Jahren Steinbildhauerei noch manchmal fragt, ob es dafürstand, für die Kunst diesen schönen Beruf aufzugeben. Und ob, würden wir sagen, da seine Erfahrung aus dem Bootsbau auch der Steinbildhauerei neue Wege erschloss.

Serpentin aus Prägraten und Marmor aus dem Krastal sind Dörflingers bevorzugte Materialien. Zur Verwirklichung seiner Formgedanken ist ihm kein Widerstand zu heftig und kein technisches Problem zu groß, doch ist in seinen Werken zunächst die Liebe zu den Steinen spürbar und ein Respekt, der jeden wie ein Individuum behandelt und ihn sich frei, gemäß seinen Eigenschaften entfalten lässt. Gedankenskizzen sind nur Formvorschläge und die spiegelglatt polierten Oberflächen der letzte Schliff eines Pas de deux, der offenlässt, wer hier von wem geführt wird.
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