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Wie es wohl wäre, hätte es mich nie gegeben?

Die Pille feiert dieser Tage ihren 60. Geburtstag. Ein Anlass, über das Leben nachzudenken.

„Genau um 22.45 Uhr Erdzeit wird er ernsthaft erwägen, Gottes wertvollstes Geschenk wegzuwerfen“, heißt es in einem himmlischen Dialog über George Bailey. Der Familienvater und Philanthrop hat einst seinen Traum, Architektur zu studieren, die Welt zu bereisen und viel Geld zu verdienen, der Karriere seines Bruders geopfert und die Bank seines plötzlich verstorbenen Vaters übernommen, die den Bürgern von Bedford Falls bei der Finanzierung von Eigenheimen unter die Arme greift. Durch eine Intrige seines Widersachers Henry F. Potter, eines miesepetrigen Geizhalses und skrupellosen Kapitalisten im Rollstuhl, droht er nun aber ins Gefängnis zu wandern. Er flieht zum nahegelegenen Fluss, bereit, von der Brücke zu springen.

Doch wieder einmal durchkreuzt die Not eines anderen seinen Plan: Trotz des heftigen Schneetreibens fällt wie aus heiterem Himmel ein Engel ins Wasser, und Bailey springt hinterher, um ihn vor dem Ertrinken zu retten. Bailey‘s feste Überzeugung, dass es besser sei, er wäre niemals geboren, bringt den Mann aus dem Jenseits, der sich als Clarence vorstellt und der seine Flügel erst durch eine überzeugende humanitäre Handlung verdienen muss, auf eine Idee: Er begleitet Bailey zurück in die Stadt, die jetzt Pottersville heißt und dem Vergleich mit Sodom oder Gomorrha spielend standhält. „So sähe die Welt aus, hätte es dich niemals gegeben“, gibt Clarence ihm zu verstehen.

Baileys jüngerer Bruder, dem er als Zwölfjähriger das Leben gerettet und zu dessen Gunsten er später auf die eigene Karriere verzichtet hat, lebt selbstverständlich nicht mehr, seine Mutter, eine verhärmte Witwe, und seine Ehefrau, eine ältliche Jungfer, kennen ihn nicht. Auf Baileys inständiges Bitten, sein Leben zurückzubekommen, stellt Clarence den alten Zustand des bescheidenen Glücks eines aufrechten Menschenfreunds wieder her und wird dafür, vollkommen zurecht, mit dem lange ersehnten Paar Flügeln belohnt.

„Ist das Leben nicht schön“ mit James Stuart als George Bailey – eine filmische Parabel über den Wert des individuellen Lebens. Foto: Wikimedia Commons/CC0

Seit Jahrzehnten ist kein Heiliger Abend vergangen, an dem der Film „Ist das Leben nicht schön“ mit James Stuart (dessen saubere Weste ihm später sogar die Erschießung von Liberty Valance versagte) nicht auf irgendeinem TV-Kanal ausgestrahlt worden wäre. Ich glaube nicht, dass ich ihn mehr als zwei, drei Mal versäumt und nach seinem Ende nicht darüber nachgedacht habe, wie es wohl wäre, hätte es mich nie gegeben. George Bailey habe ich nicht viel entgegenzuhalten. Ich bin weder Oberhaupt einer sechsköpfigen Familie, weder aufrecht noch selbstlos und ich habe noch nie einem Menschen das Leben gerettet. Ich bin zwar auch in der Provinz steckengeblieben, aber deshalb noch kein Provinzler. Zum Provinzler wird man erst dann, wenn man seinen eigenen Lebensmittelpunkt für den Mittelpunkt des Lebens zu halten beginnt.

„Jeder ist seines Glückes Schmied“, hätte der Ränkeschmied Potter gesagt, doch ob man nur die eigene Rüstung oder auch das Werkzeug (oder die Waffen) der anderen schmiedet, ist eine Frage der Ethik. Oder des Geldes. Aber schmieden kann nur einer, der lebt, und sich darüber den Kopf zerbrechen, wie es wohl wäre, hätte er nie den Hammer in die Hände bekommen, auch.

„Meine Kinder sollen es einmal besser haben als ich.“ Der Leitspruch der vorderen Generationen klingt angesichts von Corona, Weltwirtschaftskrise und drohender Klimakatastrophe höchst paradox und ist dringend renovierungsbedürftig, doch er wirft auch ein Schlaglicht auf das, was wir uns vom Leben erwarten. Und das ist mehr als das Bündel biologischer Vorgänge, auf das die Naturwissenschaft das Leben zurückführt: Stoffwechsel, Interaktion mit der Umwelt, Fortpflanzung, Vererbung, von denen das menschliche Leben den Mehrwert abschöpft. Bei der Arbeit, bei Tisch und im Bett. Die Enzyklika „Humanae vitae“, die bekanntlich auf die Vorgänge in letzterem abhebt, nennt es das „natürliche Sittengesetz“. Der Geschlechtsakt als Ausdruck von Liebe und Treue sei nicht von der Weitergabe des Lebens zu trennen.

Ihr Verfasser, Papst Paul VI., wurde postwendend dafür kritisiert. Es sei unzulässig, das Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung aus einem engen, veralteten Naturbegriff abzuleiten. Der Evolutionsbiologe und notorische Kirchenkritiker Richard Dawkins fasste das natürliche Sittengesetz ein paar Jahre später allerdings noch viel radikaler. Er beschrieb den menschlichen Körper als „Überlebensmaschine“, den egoistische Gene ausschließlich zum Zweck ihrer eigenen Reproduktion instrumentalisieren. Auch die Aufopferung für seine Verwandten und Kinder sei kein selbstloser Akt, sondern unter bestimmten Umständen nötig, um das Überleben des eigenen Erbguts sicherzustellen.

Die Pille feierte dieser Tage ihren 60. Geburtstag, was angesichts ihres einzigen Zwecks, nämlich Geburtstage schon im oder, genauer noch, vor dem Keim zu ersticken, wohl auch ein Paradoxon ist. Mein Leben ist ein paar Jahre jünger, aber älter als die Enzyklika. Es ist daher theoretisch denkbar, dass mir diese Randnotiz erspart worden wäre.


Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker, Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt und Autor. Während des Lockdowns hielt uns sein Corona-Tagebuch bei Laune, doch mittlerweile kritzelt Rudi seine Notizen einfach an den Rand der Ereignisse, also dorthin, wo die offizielle Berichterstattung ein Ende hat. Wir präsentieren in unregelmäßigen Abständen „Rudis Randnotiz“.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

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