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Schmetterer oder die Kunst, dem eigenen Kokon zu entsteigen

Katharina Zanon und Wenzel Brücher spannen kongenial ein Theatergewebe auf Schloss Bruck.

Die Kulisse im Innenhof von Schloss Bruck ist so schlicht wie beeindruckend: Über den Stiegenaufgang zum Bergfried ein roter Teppich und am Treppenabsatz eine Wanne, aus der blauschimmernde Metallstreifen fließen. Im „Erdgeschoß“, vielleicht auch im Keller, eine Art Laboratorium, Gläser unterschiedlichen Inhalts bestücken einen Tisch, auf dem auch einige watteähnliche Bällchen ausgelegt sind. Die meisten aber hängen in einer rot angestrahlten Vitrine: die reduzierte Variante von Buffalo Bills Labyrinth aus dem Schweigen der Lämmer?

„Piep. Ihre Mobilbox ist voll. Bitte löschen Sie einige Nachrichten!“ Die Telefonstimme aus dem Off hat damit auch eine Aufforderung an das Publikum formuliert, für die angekündigten 35 Minuten solche Vorausurteile zu suspendieren. Ein schlanker Enddreißiger im schwarzen Anzug, mit Oberlippenbärtchen und glatt nach hinten gebürsteten Haaren, betritt die Bühne und macht sich zu Technoklängen an den Requisiten zu schaffen. „Hallo, werter Herr Schmetterer“, tönt aus dem Anrufbeantworter die Stimme der Nachbarin, die sich beschwert, dass dieser seiner Verpflichtung, den allgemeinen Bereich der 25-stöckigen Wohnanlage zu reinigen in diesem Monat nicht nachgekommen sei. Auch die Mutter des Schmetterers meldet sich, sie berichtet vom Frühlingserwachen, und dann „der Boss“, der den „spurlos Verschwundenen“ dringend ermahnt, möglichst bald wieder „mit beiden Beinen in der Realität anzukommen.“ Die Lieferung der Seidenspinner-Kokons steht noch aus. Doch selbst als die Nachbarin, von einem unzumutbaren Geruch angelockt seine Wohnung betritt, dort „den Boss“ antrifft, den sie, abgesehen von den maßlosen Tattoos, wie eine Kopie seines Angestellten beschreibt und dessen Aphrodisiakum namens Pitralon sie am Ende erliegt, geht der Schmetterer unbeeindruckt seiner Tätigkeit nach. Fotos: Dolomitenstadt/Wagner
Dem Zuschauer dämmert allmählich, dass die Routine von einem eigensinnigen Vorhaben motiviert sein muss, und dass das, was sich vor seinen Augen abspielt und ihn als Höhepunkt noch erwartet, längst der Vergangenheit angehört. Das Off und die Bühne markieren nicht nur unterschiedliche Räume, sondern auch unterschiedliche Zeiten, die einander nie mehr einholen werden. Ein Kokon, auf den sich die Aufmerksamkeit immer weiter verengt wird größer und größer, der Schmetterer erklimmt leichtfüßig die Stufen, um in der Wanne am Treppenabsatz unterzutauchen. Nach einer umständlichen Metamorphose steigt, begleitet von Madame Butterflys Arie „Un bel di vedremo“ ein gigantischer Schmetterling aus dem Trog, rutscht auf seiner Rosenblüte die Stiege hinab und entschwindet den Blicken. Zurück bleibt ein Konfettiregen, „für eine Willkommensfeier von einem ausgewanderten Kind, das schon ganz lange nicht mehr daheim war.“ Die Osttirolerin Katharina Zanon und der in Starnberg geborene Wenzel Brücher haben Solotheater und Happening, Gegenwart und Vergangenheit dem Genius loci von Schloss Bruck kongenial entsprechend und unterhaltsam zu einem Gewebe verknüpft, das noch lange nicht fertiggesponnen ist: Momentan arbeiten die Künstlerin und der Schauspieler an einem gleichnamigen Hörspiel, das am 2. Oktober 2020 um 19:00 auf Radio Freirad zu hören sein wird. Werke einer im letzten Jahr in Osttirol entstandenen Fotoserie werden im Zuge von “Convergence” im Kunstpavillon der Neuen Galerie von 25. September bis 17. Oktober in Innsbruck gezeigt.
Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

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