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Stadt ohne Stelen? Wer soll sich denn da noch auskennen? Foto: Wolfgang C. Retter

Stadt ohne Stelen? Wer soll sich denn da noch auskennen? Foto: Wolfgang C. Retter

Als Grenzpfosten zu Eingangsportalen wurden

Der Verlust der alten Ordnung beschert uns die „kognitive Lenkung“.

„Ein herrliches Städtchen!“ Seit ich den Ausruf des deutschen Touristen, den man in meiner Kindheit weniger an seinem Idiom als an seinen Knickerbockern, der rot-weiß gewürfelten Oberbekleidung und der lodenen Tarnkappe, Marke Schinderhannes, erkannte, zum ersten, vielleicht auch zum letzten Mal, hörte, bin ich stolz, ein Lienzer zu sein. Der Tourist oder „Sommerfrischler“, wie man ihn damals nannte, war nicht etwa am Hauptplatz, sondern nach dem erfolglosen Bemühen, seiner Gattin mit seinem Spazierstock den Himmel zu zählen, vor meinem Elternhaus zum Stillstand gekommen, als der spontane Hymnus auf meine Heimatstadt seine Lippen passierte.

Mein Eltern-, eigentlich Urgroßelternhaus, denn meine Familie war dort schon seit vier Generationen ansässig, stand im Forchach. Oder in der Kalkgrube, das wusste man nicht so genau, denn die einzige Grube, die uns geläufig war, befand sich mitten auf unserem Grundstück und wurde einmal im Jahr vom Häuslraggler geleert. Da wir uns bei solchen Gelegenheiten immer bei abgedichteten Fenstern in unserer Wohnung verschanzten, kann ich über ihren Inhalt wenig berichten. Man sagt ja, dass jede Stadt ihren eigenen, unverwechselbaren Geruch hat. Nach Kalk roch die Grube jedenfalls nicht. Das Grundstück lag aber weit jenseits der Stadtmauer, „fuori le mura“, wie der italienische Gast, der den deutschen längst abgelöst hat, heute sagt.

Wir wohnten aber auch nicht am Land. Die kommunale Verkehrsplanung hatte mitten durch die Kalkgrube eine Straße gelegt, auf der die benachbarten Bauern ihr Vieh auf die Weide trieben oder mit ihren Pferdefuhrwerken an der Mobil-Tankstelle vorbeitrabten, ohne diese auch nur ein einziges Mal zu benutzen. Dafür entluden sie im Sommer tonnenweise Sägemehl vor unserem Kellerfenster, mit dem die Mutter im Winter den Sägemehlofen stopfte: einen Korb mit Sägespänen, umhüllt mit einem von unten befeuerten gusseisernen Mantel, der im Radius von mindestens eineinhalb Metern Wärme ausstrahlte. Heizen war damals noch billig.

Im Mittelalter nannte man einen von Mauern umfassten Bezirk „Burgum“, zu Deutsch Burg. Wörter wie Bürger, Bürgerau, Bürgerbeteiligung oder Bürgerrecht leiten sich davon ab. Um das Bürgerrecht zu erlangen und innerhalb der Stadtmauern zu wohnen musste man einen anständigen Beruf – Kaufmann, Hotelier, Gastronom – erlernt haben und eine beträchtliche Summe Geldes entrichten. Dafür war das Bürgerrecht erblich und ersparte den nachfolgenden Generationen allerlei Umstände. Den Rest der Bevölkerung nannte man im günstigsten Fall „Inwohner“. Aber auch das war mit Kosten verbunden. Ohne Geld blieb man eben Gesindel.

Schon in meiner Kindheit waren die Stadtmauern, die einst vom Antoniuskirchl im Osten bis vor die Klosterkirche gereicht hatten, aus demokratiepolitischen Gründen geschleift. Im Inneren der Klosterkirche, wo wir jeden Sonntag die heilige Messe besuchten, waren aber die vordersten Sitzbänke noch durch Emailschilder mit den Namen der Bürgerinnen und Bürger gekennzeichnet. Dafür wurden vor deren Nasen die Inwohnerkinder kniend am Speisgitter aufgefädelt, wo sie den städtischen Honoratioren den Rücken zukehrten. Bürgernähe nannte man das. Die Stadtoberhäupter kamen seit damals nur noch im Ausnahmefall aus der Nähe der Bürger, eher aus Gegenden wie dem Forchach, weshalb es ihnen auch immer schwerer fiel, ihre Bürger zu meistern.

Der Verlust alter Grenzen hatte auch den Verlust der alten Ordnung gebracht, die man heute jedoch, koste es, was es wolle, wiederherzustellen bemüht ist. Durch Grenzpfosten, die man dem suburbanen Gesindel euphemistisch als „Eingangsportale“ oder „kognitive Lenkung“ verkauft. Message-Control ginge auch! Aber Hand aufs Herz: Sind wir die Lenkung durch Pfosten – in der Regierung wie in den Medien – nicht längst gewohnt?

Vor einigen Jahren wurde ich vor dem Schloss Bruck Augen- und mehr noch Ohrenzeuge einer Kollision zwischen dem Kopf eines Touristen und dem eines Bullen, der dort die Auffahrt hinabgaloppierte. Die Umwandlung von kinetischer in akustische Energie brachte unmissverständlich zum Ausdruck, dass mindestens eines der kollidierten Objekte ein Hohlkörper war. Was musste der Sommerfrischler den Eingang zum Schloss auch mit so einer verblödeten App auf seinem Smartphone erfragen, anstatt sich an der bronzenen Landmark zu orientieren? Die ist jetzt jedenfalls weg. Wahrscheinlich ist sie beleidigt. Ob es der Sommergast auch ist, wissen wir dann im Sommer.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

8 Postings

Bahner Bernd
vor 2 Jahren

Vielleicht hat der Bulle seinen Platz nur frustriert verlassen,angesichts des Verfalls des schönen, alten Rohracherhofes zu seinen Füßen, der renoviert, mit Schloßbruck ein wunderbares Ensemble ergeben hätte. Ensembleschutz und Revitalisierung alter Bausubstanz scheint in Lienz keinen hohen Stellenwert zu haben,wenn ich da ua. an die Areale beim Glöcklturm, beim Platz Kreuz-,Gartengasse,beim Siechenhaus,an das Verschwinden von Vorstadtvillen usw.,usw.denke. In den letzten 50 Jahren, die ich in Lienz leben durfte ist vieles an alten Bauwerken eliminier worden ( zB der gotische Gasthof Rose ).Aus den Lücken wuchert dann meistens öderster Modernismus. Ein Fremder fragte mich einmal vor längerer Zeit,wo denn nun die Altstadt sei,wie auf den Täfelchen zu lesen.Mein Antwort hat ihn nicht ganz zufrieden gestellt. Die grünen Stelen, prätenziös und bestenfalls Behübschung,wie so vieles hier, die Markierung eines Übergangs von dem was an Altstadt übergeblieben ist zu einem Glacis mit einem irritierenden Durcheinander von Parkplätzen und langweiliger Kubatur. Dass hier auch ein großes, altes Stadelgebäude weichen mußte, aus dem wohl mehr zu machen gewesen wäre, nur so nebenbei. Immerhin : die Achse Messinggasse bis zum Hauptplatz empfinde ich als ansprechend und in der Gestaltung gelungen, vor allem ,wenn aus dem letzteren noch etwas werden sollte.

 
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    Herr_Ethiker
    vor 2 Jahren

    Bezüglich der großen Künstler würde ich gerne hier auf Folgendes hinweisen: "In dieser Idylle stand einst das Atelier eines bedeutenden Malers. Wenn man auf dem Parkplatz nicht wenigstens eine Gedenktafel aufstellt, wird nicht nur unser ökologischer, sondern auch unser kultureller Alzheimer beschleunigt." Das wäre mir ein wenig wichtiger als der undefinierbare Hohlkörper mit zwei Hörnern.

     
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amRande
vor 2 Jahren

Erinnert mich an einen spontanen Ausruf eines "Sommerfrischlers" aus unserem nördlichen Nachbarland beim Eintritt von der Andrä Kranz-Gasse in den Hauptplatz zu seinen Begleiterinnen: "Guckt mal, wat für'n schöner Platz!" Für einige Augenblicke war ich stolz, Lienzer zu sein. Das Ganze übrigens im Jahr 2021! Hätten die Herrschaften gewusst, wieviel verkrampftes Gestaltungsgeschwurbel sich um den Platz rankt, wäre ihre Anerkennung möglicherweise verhaltener ausgefallen...

 
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Kiew
vor 2 Jahren

Als alter Ministrant kann ich mich noch gut an die versperrten Kirchenbänke mit den Namensschildern erinnern. Weh, man setzte sich hinein und war der Besitzerin nicht genehm. Übrigens habe ich solche Namensschilder noch 1993 in der Stadtpfarrkirche von Braunau gefunden!

 
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so ist es vielleicht
vor 2 Jahren

Hoffentlich stehlen sie dann die häßlichen Steelen wieder, wer auch immer, ich wär dafür 😃

 
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Hannes Schwarzer
vor 2 Jahren

Dumme Frage: Ist das Titelfoto nicht seitenverkehrt ? (Ä.Peggerstrasse)

 
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    r.ingruber
    vor 2 Jahren

    Nicht nur das, auch der Text ist seitenverkehrt!

     
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aenda
vor 2 Jahren

aus Fairness gegenüber der heimischen Künstlerschaft: die männliche Form von zählen lautet erzählen

 
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