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Der Zug ist abgefahren, im Land am Strome

Der Schaffner bleibt in Amt und Würden. Er hat sich die Trittbrettfahrer vom Leib gehalten.

„Aufstehn!“, rief der verwirrt dreinblickende ältere Herr mit der roten Jeansjacke und den weißen, zerzausten Locken. Wenn er glaubte, ein neuer Tag hätte begonnen, so hatte er sich wohl im Datum geirrt. „Um Ihre Nachricht zu beenden, drücken Sie die Rautetaste“, erwiderte der Lautsprecher am Bahnsteig. Es war fünf nach zwölf. Soeben war der Zug abgefahren.

Der Schaffner lehnte sich weit aus dem Fenster des Schlafwagenabteils. Sein strenger Blick und die tiefen Furchen unter der Schirmmütze sollten genügen, sich die Trittbrettfahrer vom Leibe zu halten, die todesmutig an den Wagons klebten, während der Zug immer mehr Fahrt aufnahm. Sich mit ihnen auf eine Diskussion einzulassen hätte die Würde seines Amtes beschädigt.

Er wischte mit der offenen Hand zum Abschied noch ein paarmal vor seinem Gesicht hin und her, ehe er die Scheibe mit einem kräftigen Ruck nach oben stieß und dabei den Mittelfinger von der Rechten jenes Mannes abtrennte, der am hartnäckigsten um eine Mitfahrgelegenheit buhlte. Ein beiläufiger Tritt mit der Schuhspitze ließ ihn unter einer Sitzbank verschwinden.

Der Zug war nicht viel mehr als halbvoll, weshalb der Schaffner mit seiner Arbeit, dem Stanzen der Klimatickets, schnell fertig war. Und es war nicht gesagt, dass im Laufe der Fahrt nicht noch einige aussteigen wollten. Dann würde er selber der erste sein. Allerdings hatte er bis jetzt nicht die Muße gehabt, sich über die Dauer oder das Ziel seiner Reise kundig zu machen.

„Hast seit frühen Ahnentagen hoher Sendung Last getragen.“ Foto: Expa/Schrötter

Dass der Lokführer genauere Kenntnis besaß, war zu bezweifeln. Der Lokführer war ein braver, einfältiger Mensch, den er nur eingestellt hatte, weil kein Kompetenterer zur Verfügung stand. Mit Fortdauer der Reise würde er ihn samt seiner Mannschaft wohl noch ein paarmal austauschen müssen, ausgenommen den Heizer. Nicht nur, weil der Heizer eine Heizerin war, sondern weil er als einziger die Lok mit Kohle zu befeuern und den Deckel auf dem Kessel zu halten verstand.

Fürs Erste jedoch ließ sich der Schaffner zufrieden in die lederne Sitzgarnitur fallen, und zwar gegen die Fahrtrichtung, um nicht ständig daran erinnert zu werden, dass der Zug sich rückwärts bewegte. Er setzte seine Kopfhörer auf und blickte zum Fenster hinaus. Von der vielgerühmten Heimat war aufgrund der rabenschwarzen Nacht nichts zu sehen. Aber hören konnte er sie.

„Land der Berge, Land am Strome…“ Das mit dem Strome erschien ihm besonders gelungen, war doch der Strom das mit Abstand teuerste Gut seiner Heimat. Für Arme ebenso wie für Reiche. Die Gerechtigkeit lag ihm am Herzen, allem voran die Geschlechtergerechtigkeit, weshalb er die Bundeshymne in jener Lesart favorisierte, die Andreas Gabalier zusammen mit Conchita Wurst eingespielt hatte.

Am besten aber gefiel ihm die Strophe, die ihn selbst mit einem pensionierten Briefträger verglich: „Hast seit frühen Ahnentagen hoher Sendung Last getragen.“ Eineinhalb Fußballfelder Papier hatte er noch im Frühjahr vom Finanzministerium, nachdem sich dort niemand dazu bereiterklärt hatte, in den Nationalrat geschleppt. Da soll noch einer sagen, er hätte seine Pflicht nicht erfüllt. Leider halt mit etwas Verspätung.

Apropos Verspätung: Der seltsame Mann vom Bahnsteig wollte ihm nicht aus dem Kopf. Der hatte doch seinen Anschluss verpasst. Also war er zu spät gekommen. Andererseits: Wenn, wie nun immer deutlicher wurde, der Zug tatsächlich rückwärtsfuhr, kam er dann etwa zu früh? Dann müsste er ihm am nächsten Bahnhof ja wieder begegnen. Um fünf vor zwölf!

Mit der Relativitätstheorie war der Schaffner nicht so vertraut, und um bis zwölf zu zählen, reichten seine Finger nicht aus – auch nicht bis fünf vor. Immer wieder begann er aufs Neue: „… acht, neun, zehn, elf…“ Ekel ergriff ihn, als er den fremden Finger an seiner Rechten bemerkte, der von der Mittelhand abwärts zum Saum seines Hosenbeins eine dünne Blutspur hinter sich herzog, deren Ursprung sich unter der gegenüberliegenden Sitzbank verlor.

Ein schrilles Pfeifen riss den Schaffner aus seinem Schauder. Er spähte erneut zum Fenster hinaus, und wirklich, da stand er wieder, der seltsame Mann. Rotweißrot hob er sich von der Finsternis ab. Und er streckte ihm nicht nur den Mittelfinger entgegen, sondern eine ganze rettende Hand! „Söll koana moana, dass a koan ondara braucht.“ Wer hatte das gleich noch gesagt?

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

4 Postings

Pand
vor 2 Jahren

Schlafwagen trifft's auf den Punkt ;)

 
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azzo
vor 2 Jahren

Wo spielt diese Geschichte? Bei uns gibt es schon lange keine Züge mit Fenstern, die man öffnen kann.

 
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unholdenbank
vor 2 Jahren

Das ist nicht Ironie, auch keine Satire, das ist Bösartigkeit gegen einen integren Menschen! Dass Rudi, den ich sonst sehr schätze, sich dafür hergibt tztztztz.

 
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Chronos
vor 2 Jahren

Ironie durchströmt den schnellsten Zug mit dem "höchsten Schaffner" im Land - wie immer Herr Ingruber, i.d.F. top (Polit)Satire!

 
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