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Liegt die Schönheit im Auge des Betrachters?

Kunst ist weniger ein Wahrnehmungs- als ein Darstellungsproblem – mit und ohne Computer. 

„Es ist aber das, was ich sehe: flach!“ schrie Paul Gauguin seinen Künstlerkollegen van Gogh an, der ihm vorgeworfen hatte, dass seine Bilder jeder räumlichen Tiefe entbehrten. Ist es möglich, dass zwei Maler, die gleichzeitig und nebeneinander dasselbe Motiv bearbeiten, völlig unterschiedliche Wahrnehmungen haben? Wir wissen es nicht, so der ernüchternde wissenschaftliche Befund.

Gauguin scheint van Gogh genau verstanden zu haben und den Unterschied zwischen räumlich und flach auch zu kennen. Bilder der beiden Künstler bestehen jedoch aus Farben, und ob einer von beiden das Blau des anderen zwar auch „blau“ bezeichnet, obwohl seine Wahrnehmung dem entspricht, was der andere als rot sieht, ist verlässlich nicht mehr zu kommunizieren. Man ist eben übereingekommen, beide Empfindungen so oder so auszusprechen. Das oberste Licht einer Ampel nennen wir rot, das unterste grün. Das leuchtet sogar der Wissenschaftlerin Mary aus Frank Cameron Jacksons Gedankenexperiment ein. Sie weiß alles über Farben, ohne sie jemals gesehen zu haben.

Es scheint, als sei über Farben leichter Einigkeit zu erzielen als über Schönheit, für die wir bekanntlich das Auge des einzelnen Betrachters verantwortlich machen. Aber auch Schönheit unterliegt Konventionen. Das Urteil des Paris wäre vermutlich anders ausgefallen, hätte Homer die Venus von Willendorf zum Schönheitswettbewerb antreten lassen. Eine unbeholfene Kopie aber, sagen wir durch ein dreijähriges Kind, der Venus von Botticelli würde wahrscheinlich dem Original aus Willendorf unterliegen. Kunst ist weniger ein Wahrnehmungs- als ein Darstellungsproblem.

Ausschnitt aus dem Animationsspielfilm Seder Masochism der amerikanischen Comic-Künstlerin und Trickfilmzeichnerin Nina Paley. 


„Hat er denn keine Haare?“ fragte die Lehrerin, die mich und eine Gruppe Gleichaltriger zur Feststellung der Volksschulreife beauftragte, unseren Vater zu zeichnen. Während mein Sitznachbar, der seinen Erzeuger, den er noch nie zu Gesicht bekommen hatte, mit einem bewundernswerten Pilzkopf versah, hatte ich den kümmerlichen Rest der Frisur, der meines Vaters Hinterhaupt zierte, in der Frontalansicht beim besten Willen nicht unterzubringen verstanden und machte mich schon auf ein weiteres Jahr im Kindergarten gefasst. „Kinder zeichnen das, was sie wissen, nicht das, was sie sehen“, war das Dogma der Kunstpädagogik.

Kulturen neigen dazu, dem Individuum ein Entwicklungsziel vorzuschreiben, auf das es zusteuert (oder gesteuert wird), dem man ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit widmet, die später allmählich nachlässt und zum Vergessen tendiert. Ein Mensch fängt klein an, gedeiht und blüht auf, bringt Früchte, verwelkt und stirbt irgendwann.

1927 beschrieb Georges Henri Luquet die Entwicklung der Kinderzeichnung, die vom Kritzelstadium über die zufällige darstellerische Intention zum schematischen und schließlich zum reifen visuellen Realismus gelangt. Wäre das Modell damals, bei meiner Aufnahmeprüfung, der Lehrerin geläufig gewesen, ich hätte meine Schullaufbahn von Rechts wegen mit der Matura begonnen! Hat man jedoch die Vorstellung des linearen Wachstums erst auf eine Skala aufgetragen, dann ist es ein Leichtes, der Entwicklung von außen her nachzuhelfen. Am besten soll das in der vorschematischen Phase gelingen. Der Erfolg schlägt sich auf der Lehrerinnenseite zu Buche.

Etwa zu selben Zeit, als Luquet seine individualgeschichtliche Theorie publizierte, beschrieb der Kunsthistoriker Erwin Panofsky die Entwicklung des visuellen Realismus durch die zentralperspektivische Bildkonstruktion am Übergang zwischen Mittelalter und Neuzeit. Das Ziel, das beide unausgesprochen definierten, war jedoch die Fotografie, nicht die Kunst. In der Kunst, die nicht mehr auf die objektive Außenwelt, sondern auf die Innenwelt des Künstlers gerichtet war, hatten der visuelle Realismus und das neuzeitliche Bildverständnis zu dieser Zeit bereits ausgedient, auch wenn man zeitgenössische Künstler immer noch verdächtigen konnte, irgendwo zwischen Kritzelstadium und kindlichem Realismus steckengeblieben zu sein.

Und heute? „Das Bild auf dem Computermonitor“, sagt der amerikanische Videokünstler Bill Viola, „ist nur die oberste Schicht eines ausgedehnten Netzwerks aus Verbindungen und verborgenen Symbolformen, das die eigentliche Realität dessen darstellt, was wir vor uns sehen. Beide Welten, die Innenwelt des Computers und die Innenwelt, in der wir leben, sind nicht sichtbar.“

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

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Ein Posting

Bahner Bernd
vor einem Jahr

Was das Wesen oder auch die Qualität eines Kunsrwerkes ausmacht entzieht sich eigentlich einer analytisch argumentativen Deutung .Auf der anderen Seite der percipierende Betrachter, der die Wesenheit einer kreierten Gestalt bestimmter Proportionalität von Form und Farbe zu erfassen hat,und ergriffen ist ; eine gewisse Tiefe und Schulung des Empfindens vorausgesetzt. Gleich, ob sich dies in der Höhlenmalerei von Lascaux oder bei einem Werk von Jackson Pollock abbildet. Die universelle Kunstbetrachtung aller Werke und seien sie noch soweit zeitlich und örtlich entfernt, ist wohl dem modernen Menschen ohne feste kulturelle Eingebundenheit vorbehalten. In früheren Zeiten haben wohl vor allem magisch kultische,religiöse Zugänge die Rezeption bestimmt.Diese Unmittelbarkeit manifestiert sich auch in ihren Schaffen und berührt uns heute noch.

 
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