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Fotografie, Kunst und die Illusion von Wirklichkeit

Versteckte Hilfsmittel und optische Tricks sind keine Erfindung des Digitalzeitalters. 

Um eine Gegenkandidatur zu vereiteln, zwingt Bürgermeister Boussard einen Fotografen, das Porträt der Gattin seines Konkurrenten in die Aufnahme einer Swingerparty zu praktizieren. In dem französischen Film „Kein Rauch ohne Feuer“ aus dem Jahr 1973 geht es aber nur vordergründig um politische Intrigen, vielmehr um die Frage, ob Fotografien als Beweismittel vor Gericht zulässig sind. Die Fotografie zeigt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Darüber war man sich, wenigstens zur Zeit ihrer Erfindung, gewiss.

„Welch ein Vorteil für Architekten, den ganzen Säulengang von Baalbek oder den Krimskrams einer gotischen Kirche in 10 Minuten in Perspektive auf dem Bilde mitzunehmen“, urteilte 1839 Alexander von Humboldt über die eben erst publizierte Errungenschaft Louis Daguerres, mit der Camera obscura aufgenommene Bilder auf chemischem Wege dauerhaft zu fixieren. Und es erschien geradezu als der Zweck des Verfahrens, alles genau abzubilden und nichts auszulassen. Nichts auszulassen?

„Alles, was sich bewegt, bleibt unsichtbar. Der Boulevard, der doch von Fuhrwerken befahren und von Fußgängern belebt war, schien auf der Aufnahme ganz leer, abgesehen von einem Mann, der sich die Schuhe putzen ließ“, bemerkte der Maler, Bildhauer und Erfinder Samuel F. B. Morse angesichts des aus Daguerres Atelierfenster verewigten Blicks auf den Pariser Boulevard du Temple. Die lange Belichtungszeit hatte bewegten Motiven keine Chance gelassen, sich der mit Halogen bedampften Silberschicht einzuprägen.

Der Arzt Michel Peyrac (Bernard Fresson) mag nicht glauben, was er sieht. Seine Gattin (Annie Girardot) als Teilnehmerin an einer Swingerparty? Das Foto scheint es zu beweisen. Foto: United Archives/Alamy

Heute werden Verschlusszeiten üblicherweise mit Sekundenbruchteilen veranschlagt. Damit aber schleicht sich eine Größe in das Spiel mit der Wahrnehmung, deren Tragweite die Selbstverständlichkeit, mit der man eine Fotografie als getreues Abbild der Wirklichkeit hinzunehmen bereit ist, kaum reflektiert. Die Möglichkeit, Bewegungen von noch so hoher Geschwindigkeit einzufrieren, lässt die Realität nicht nur auf die räumlichen Grenzen des Bildträgers schrumpfen, sondern vor allem auch auf die Zeitspanne zwischen dem Öffnen und Schließen der Kamera.

2001 irritierte der britische Maler und Fotograf David Hockney die Kunstwelt mit einer Theorie, die den Realismus und die Wahrheit der Malerei seit den 1420er Jahren mit dem extensiven Gebrauch optischer Hilfsmittel begründete. Der Konkavspiegel und die mit kontinuierlich verbesserten Linsen ausgestattete Camera Obscura erzeugten Abbilder der Wirklichkeit, die von Zeichnern und Malern nur noch festgehalten und codiert werden müssten.

Das Handwerk ist seit der Zeit, als man begann, zwischen die Optik der Kamera und das Abbild der Wirklichkeit ein Negativ einzuschalten, integraler Bestandteil der analogen Fotografie. In der Dunkelkammer werden Erinnerungen manipuliert und der Zugang zu dem freigelegt, was Walter Benjamin das Optisch-Unbewusste genannt hat. Endgültig erschüttert konnte das Vertrauen in die dokumentarische Wahrheit der Fotografie jedoch erst durch ihre digitale Manipulierbarkeit werden, ab dem Zeitpunkt, zu dem nach Hockney „der Künstler wiederum seine Hand ins Spiel brachte“.

Die Zeit, in der die Chemie den Künstler ersetzte, war nicht mehr als ein etwa 170-jähriges Intermezzo. Aus David Hockneys Blickwinkel wäre die aufwändige, heute fünfzig Jahre alte Fotomontage aus André Cayattes Filmdrama daher bestenfalls ein gedungener Schwindel, ein von künstlicher Intelligenz generiertes Bild jedoch Kunst. Was aber ist Wahrheit?

Wir alle kennen van Goghs berühmtes „Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr“. Die korrekte Bezeichnung müsste allerdings „ohne abgeschnittenes Ohr“ lauten, denn an der Stelle des namensgebenden Motivs sieht man nur noch einen dicken Verband. Auch sein Freund Paul Gauguin hat van Gogh portraitiert. Er lässt ihn vor einer Staffelei Platz nehmen und mit der Rechten den Pinsel über die Leinwand bewegen.

Für einen Rechtshänder ist es allemal leichter, sich das linke, statt das rechte Ohr abzuschneiden. Auf seinem Selbstporträt trägt van Gogh den Verband aber rechts! Möglicherweise hat er für das Ohrabschneiden wie für das Porträtieren ein optisches Hilfsmittel, einen Spiegel benutzt. Nennen wir ihn gar deswegen Künstler? Und ist seine Kunst gerade deshalb und nur deshalb wahr?

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

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