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Wer beim Klettern hoch hinaus will, hat mit weniger Gewicht einen Vorteil - ein strukturelles Problem der Sportart, dem sich der Internationale Kletterverband nur zögerlich stellt, kritisieren Athlet:innen wie Mediziner:innen. Symbolbild: unsplash/ynsplt

Wer beim Klettern hoch hinaus will, hat mit weniger Gewicht einen Vorteil - ein strukturelles Problem der Sportart, dem sich der Internationale Kletterverband nur zögerlich stellt, kritisieren Athlet:innen wie Mediziner:innen. Symbolbild: unsplash/ynsplt

REDs im Klettersport: „Top!“ um jeden Preis?

Im Kampf gegen die Schwerkraft spielt Gewichtsreduktion eine Rolle - mit negativen Auswirkungen auf die Gesundheit. 

Klettern steht wie selten ein anderer Sport für ein einfaches Leben, für Abenteuer und für Freiheit, Gelassenheit, ja vielleicht Leichtigkeit. Wie in so vielen anderen Sportarten geht es im Wettkampf- und Profibereich allerdings weniger gelassen zu und vor allem der Begriff Leichtigkeit bekommt eine andere Bedeutung: Wer den Kletter-Worldcup Mitte Juni in Innsbruck verfolgt hat, der sah vor allem eines: talentierte Athlet:innen, die anspruchsvolle Lead- und Boulder-Routen eindrucksvoll meisterten, dabei aber auch selten ein Gramm zu viel mitzutragen schienen. 

„In einem Sport, in dem man gegen die Schwerkraft kämpft, spielt Gewicht eine Rolle“, erklärt die Profi-Kletterin Alannah Yin in einem Interview mit Dolomitenstadt.at. Die Kanadierin hatte im Rahmen des Kletter-Worldcups in Innsbruck den Internationalen Sportkletterverband (IFSC) öffentlich dafür kritisiert, in diesem Jahr die BMI-Testungen vor den Semi-Finalrunden im Worldcup auszusetzen.

Setzt sich für einen gesünderen Umgang mit der Gewichtsproblematik im Klettersport ein: Die kanadische Profi-Kletterin Alannah Yip, hier beim Interview mit Dolomitenstadt.at. Foto: Dolomitenstadt/Einhauer

Den Umstand, dass Kletterer und Kletterinnen (absichtlich) Gewicht reduzieren, um an der Wand oder am Fels bessere Leistungen zu erzielen, kenne man schon seit den 90er-Jahren, damals habe man die Problematik aber vor allem beim Outdoor-Klettern thematisiert: „Eine der Trainingsmethoden war es einfach, nichts zu essen – mit allen gesundheitlichen Folgen“, meint Yip. Sie verwundert, dass sich die Diskussion rund um die gewollte Gewichtsoptimierung von Kletterinnen nur schleichend auf den Indoor- und Wettkampfbereich überträgt. Sie kenne keine/n Athlet/in aus dem Profibereich, der/die nicht an irgendeinem Punkt in seiner/ihrer Kletterkarriere mit Gewichtsproblemen zu kämpfen hatte, bis hin zu Erzählungen von Sportler:innen, die während des Trainings bewusstlos wurden, weil ihnen die Energie fehlte.

Alannah Yip (im Vordergrund) bei der Olympiade in Tokyo. Gegen die Schwerkraft ist jedes Gramm Körpergewicht hinderlich. Foto: Koji Aoki/AFLO SPORT/Alamy

Denn eines ist klar: Unregelmäßiges Essen bzw. dauerhafte Gewichtsreduktion wirkt sich negativ auf die mittel- bzw. langfristige Gesundheit der Athlet:innen aus. Das betrifft nicht nur den Klettersport, sondern sämtliche andere Sportarten, in denen das körpereigene Gewicht eine Rolle spielt: „Etwa beim Bodenturnen oder im Ballett, aber auch in Ausdauersportarten wie Skibergsteigen, Trailrunning, Langlaufen oder Radfahren sehen wir unterernährte, schlanke, untergewichtige (Profi-)Sportler:innen“, erklärt Wolfgang Schobersberger, Sportmediziner an den Tirol Kliniken in Innsbruck und der UMIT Tirol in Hall, der unter anderem das Österreichische Kletterteam und Athlet:innen des ÖSV in medizinischen Fragen betreut und Leistungsdiagnostiken durchführt.

„Wenn dauerhaft deutlich mehr Energie verbraucht als durch Ernährung dem Körper zugeführt wird, gelangt man irgendwann in einen Bereich, bei welchem die Energieverfügbarkeit eines Athleten bzw. einer Athletin nicht mehr gegeben ist und schließlich nicht-lebensnotwendige Prozesse wie Reproduktion und Wachstum eingeschränkt werden“, erklärt Schobersberger die nach außen hin recht einfach wirkende Rechnung. In der sportmedizinischen Forschung ging man lange Zeit davon aus, dass vor allem Frauen von der Problematik betroffen seien: Man sprach von der „Athletischen Triade“ (Female Athlete Triad, kurz FAT), die sich aus verminderter Energieverfügbarkeit, einer unregelmäßigen oder ausbleibenden Menstruation und einer verminderten Knochendichte zusammensetzt. 

Im Jahr 2014 hielt das Internationale Olympische Komitee in einem Statement fest, dass eine unzureichende Energiezufuhr noch weitreichendere Auswirkungen auf die Gesundheit von Athlet:innen hat und Frauen und Männer gleichermaßen davon betroffen sind - bei Männern ist die Diagnose allerdings komplexer. Zusammengefasst wird diese Dysbalance aus Energiezufuhr und Energieverbrauch mit dem Begriff „Relative Energy Deficiency in Sports“, kurz REDs. Neben den bereits genannten Symptomen der Athletischen Triade macht sich REDs auch im Stoffwechsel, den Verdauungsorganen, der Herz-Kreislauf-Gesundheit, der psychischen Gesundheit und in der Funktion des Immunsystems bemerkbar. 

Ernährungs- und Sportwissenschafterin Judith Haudum: „Viele Sportler:innen unterschätzen, wie viel Energie sie verbrauchen.“ Foto: Sportnutrix
Sportmediziner Wolfgang Schobersberger warnt vor Mangelerscheinungen und ernsthafter Gesundheitsgefährdung. Foto: Tirol Kliniken

„Wir sehen Mangelerscheinungen im Blutbild, die die Muskelperformance und die Ausdauer maximal beeinträchtigen. Außerdem erhöht sich durch die Osteoporose das Verletzungsrisiko schon bei jungen Athlet:innen“, erklärt Schobersberger. „REDs führt aber nicht nur zu körperlichen Beschwerden, auch die kognitive Leistung sowie die Reaktionsfähigkeit können beeinträchtigt sein und viele Themen aus der Psychologie spielen bei REDs eine Rolle“, so der Mediziner. 

Doch nicht nur Profisportler:innen können – gewollt oder ungewollt – von REDs betroffen sein, auch im Hobbysport ist eine Unterversorgung des Körpers keine Seltenheit: „Viele Sportler:innen unterschätzen einfach, wie viel Energie sie verbrauchen, etwa wie viel Energie ihr Körper allein in Ruhe verbraucht und dann kommt noch der Energieverbrauch durch das Training hinzu. So kann auch unbewusst REDs entstehen“, erklärt die Ernährungs- und Sportwissenschafterin Judith Haudum, auch sie betreut das ÖSV-Team.

Es gibt aber auch Athlet:innen, die absichtlich Mahlzeiten auslassen oder lange und intensive Trainings grundsätzlich nur mit Wasser und ohne zusätzliche Energieversorgung absolvieren, mit dem Ziel, Gewicht zu reduzieren. „Wenn man als Expertin darauf schaut, merkt man bei manchen Ernährungsmustern sofort, dass da etwas nicht stimmt. Innerhalb gewichtssensibler Sportarten wird ein solches Ernährungsverhalten aber oft als die ‚Norm‘ angesehen, nach dem Motto: ‚Die anderen machen das ja auch so‘“, schildert Haudum.

Man hat ja Kontrolle über das Essen, aber irgendwann wird man dann vom Essen kontrolliert.

Judith Haudum, Sportwissenschafterin und Ernährungsexpertin

REDs wird nicht als Essstörung klassifiziert, das eine kann allerdings das andere bedingen und der Übergang ist fließend: „Man hat ja Kontrolle über das Essen, aber irgendwann wird man dann vom Essen kontrolliert. Je länger man in dem Denkmuster verbleibt, desto schwieriger ist es, wieder herauszukommen“, so Haudum. Sie merke, dass unter Trainer:innen und Sportler:innen langsam ein Bewusstsein für die Problematik entstehe, vieles werde aber dennoch in Kauf genommen, um in spezifischen Sportarten besser zu werden. „Das geht vielleicht eine Zeit lang gut, aber irgendwann ist die Unterversorgung zu ausgeprägt und es kommt die Retourkutsche.“ 

Das Internationale Olympische Komitee arbeitet derzeit an neuen Regulationen, um REDs im Sinne der Athlet:innen-Gesundheit entgegenzuwirken. Maßnahmen für einzelne Sportarten gibt es derzeit nur wenige und wenn, dann obliegt die Umsetzung meist den Nationalteams: „REDs zu diagnostizieren ist komplex, weil es keine eindeutigen Marker gibt und die Forschung dazu noch recht jung ist“, erklärt Schobersberger.

Das prominenteste Beispiel für Regulationen findet man im Skispringen: Athlet:innen müssen hier einen BMI von 21 nachweisen. „Der BMI alleine ist für Aussagen über die Gesundheit allerdings nicht wirklich geeignet, außerdem gibt es eine Reihe an Möglichkeiten das Gewicht kurzfristig – also z.B. kurz vor den BMI-Messungen -  zu manipulieren, etwa indem man davor einen dreiviertel Liter Wasser trinkt oder zusätzliches Gewicht versteckt“, erklärt Haudum.

Einigen Nationen und Trainer:innen sind gute Ergebnisse und Medaillen wichtiger als die Athlet:innen-Gesundheit.

Alannah Yip, Profi-Kletterin

Auch im Sportklettern wurde bis zur vergangenen Saison der BMI der Athlet:innen jeweils vor den Semi-Finalrunden im Worldcup kontrolliert, die Grenzen lagen bei einem BMI von 19 für Männer und 18 für Frauen. Das Problem: Wenn ein:e Athlet:in die Grenze unterschritt, gab es lediglich einen Brief von der IFSC an das Nationalteam, einen Gesundheitscheck durchzuführen. Wie das jeweilige Nationalteam damit umging, war ihm selbst überlassen. „Einigen Nationen und Trainer:innen sind gute Ergebnisse und Medaillen wichtiger als die Athlet:innen-Gesundheit“, kritisiert Alannah Yip den Umgang der IFSC mit der Thematik.

Derzeit wird an neuen Regulationen für den Klettersport gearbeitet. Zusätzlich zu BMI/MI-Kontrollen (der MI berücksichtigt auch Bein- und Rumpflänge im Verhältnis zum Körpergewicht) sollen Athlet:innen unter dem BMI-Grenzwert medizinische Daten liefern, damit ein gesundheitliches Risiko in Bezug auf REDs ausgeschlossen werden kann. Die Befunde werden im Anschluss von der Medizinischen Kommission der IFSC bewertet und nach Risiko-Stufen (grün, gelb, orange und rot) eingeordnet. Alannah Yip und weitere Athlet:innen fordern allerdings, dass alle lizensierten Kletterer:innen ein REDs-Screening nachweisen sollten.

Der Internationale Kletterverband war bis zur Fertigstellung des Artikel nicht für ein Statement zur Problematik erreichbar, zeigte sich allerdings in einer Reaktion auf die Kritik von Yip bemüht, die Gesundheit der Athlet:innen in den Fokus zu nehmen. So werden ab sofort auch in dieser Saison wieder BMI/MI-Messungen durchgeführt, die neuen, umfassenderen Regulationen sollen 2024 in Kraft treten. Gleichzeitig haben in der vergangenen Woche sowohl der Präsident der medizinischen Kommission der IFSC, Eugen Burtscher, als auch ein weiterer Arzt, Volker Schöffl, ihre Funktion zurückgelegt, mit der Begründung, das „Nicht-Handeln der IFSC bezüglich der REDs-Problematik“ nicht länger zu akzeptieren. 

Alannah Yip hat im Rahmen des Worldcups in Innsbruck auch das Ende ihrer Profikarriere bekannt gegeben, ein Umstand, der es ihr erleichtert hat, ihre Meinung öffentlich zu äußern: „Wenn man aktiv im Wettkampfsport ist, ist das nicht so einfach. Ich freue mich, wenn ich nach meiner Profikarriere als Teil der Athlet:innen-Kommission meine Stimme noch stärker nutzen kann.“ Sie wolle den Klettersport in jedem Fall in einer besseren Konstellation hinterlassen, als sie ihn vorgefunden hat. 


Mehr Informationen: 

Statement des Olympischen Komitees zu REDs


Anna Maria Huber unterrichtet an der International School in Innsbruck und schreibt nicht nur für dolomitenstadt.at sondern auch für die Straßenzeitung 20er. Annas Stärken sind penible Recherchen und die Fähigkeit, komplexe Inhalte in klare und verständliche Artikel zu verwandeln.

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Vielen Dank Anna Maria Huber u. dolomitenstadt.at!

Solche Artikel findet man ansonsten nur in guten Fachzeitschriften. Meist werden solche Themen, wie auch die heikle Thematik des Dopings im Ausdauersport "totgeschwiegen". Es handelt sich auch um ein gesellschaftliches Problem, weil es nicht nur den Profisport betrifft. Die Gesundheit ist Nebensache und auch "der Betrug an sich selbst" ist egal, nur Zahlen und Leistungen zählen!

 
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