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Um ein Individuum auszuzeichnen, bedarf es bestimmter Eigenschaften und Merkmale, die nur diesem gehören. Foto: iStock

Um ein Individuum auszuzeichnen, bedarf es bestimmter Eigenschaften und Merkmale, die nur diesem gehören. Foto: iStock

Von Unschuldslämmern und schwarzen Schafen

Man kann besondere Merkmale und Eigenschaften als Mehrwert verstehen, den das Individuum der Gruppe anbietet.

„Und, habt's schon Mittag 'gessen?“ Ob die Frage nach einem plumpen Annäherungsversuch klingt oder nach einer gefährlichen Drohung, hängt nicht so sehr davon ab, wer sie stellt, vielmehr davon, an wen sie sich richtet: an bestens versorgte Bewohnerinnen eines Seniorenheims oder an armutsgefährdete Kinder. Der soziale Kontext, nicht das Individuum ist das Problem, wenngleich das Zusammenspiel beider darüber entscheidet, ob der Fragesteller als Rosstäuscher oder als Zyniker gilt. Wer selbst ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein! Oder den ersten Teller.

Die Schülerin Emma B. aus Absam hatte am 21. 11. 1939 während eines Krankenhausaufenthaltes – der Grund war eine Eileiterentzündung – einer Mitpatientin, die wegen ihrer Diabetes Fleisch und nicht, wie sie selbst, nur Mehlspeisen zu essen bekam, ihren Teller vor die Füße geworfen, worauf man sie zur Beobachtung an die Nervenheilanstalt Hall überwies. Dort wurde die Diagnose „angeborener Schwachsinn“ mit der Prognose der „Weitergabe ihrer unheilvollen Gene“ und der „Verbreitung von Geschlechtskrankheiten“ verknüpft.

Dass Verhaltensauffälligkeiten seit dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland verstärkt negativ bewertet und nicht etwa als Folgen, sondern als Rechtfertigung von Strukturen namhaft gemacht wurden, deren schädliche Auswirkungen auf die Patienten, durch Hospitalisierung und den Verlust sämtlicher Persönlichkeitsrechte, man kaum leugnen wird können, betraf noch rund 30.000 weitere Patienten, die man nach Hartheim, ein Renaissanceschloss in Alkoven bei Linz, mit immer breiter werdendem Ein-, in jedem Fall aber mit tödlichem Ausgang, verbrachte.

Für eine Beschulung nach 1945 hatte das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten kaum Nachwuchs übriggelassen. Trotzdem wurde in Lienz schon 1952 die erste Sonderschule ins Leben gerufen, und zehn Jahre später gab es bereits 16 Klassen für „lernbehinderte“ und zwei Klassen für „schwerstbehinderte“ Schülerinnen und Schüler im ganzen Bezirk. Die Statistik ließ damals einen „erschreckend hohen Prozentsatz“ an Kindern befürchten, die den zu erwartenden Ausbildungsanforderungen der Zukunft nicht mehr gewachsen sein würden. War vielleicht auch das Lehrpersonal überfordert?

Aus der Geschichte selbst wird ersichtlich, dass Ausbildungscurricula auf gesellschaftlichen Konventionen beruhen, die durchaus nicht unveränderlich sind. Gewohnheiten und Konventionen sind in der Regel willkürlich und nicht wesensnotwendig, im Gegenteil: Wenn sie das Wesen, dem sie entsprechen sollten, zu weit verfehlen, verkommen sie zum Klischee. Curriculum heißt auf Deutsch „Wettlauf“, und wer mit diesem Klischee nicht schritthalten kann, gilt als „behindert“. Insofern könnte man Curriculum auch mit „Hindernislauf“ übersetzen.

Curriculum heißt auf Deutsch „Wettlauf“, und wer mit diesem Klischee nicht schritthalten kann, gilt als „behindert“. 

„Matura wird er keine machen.“ In der ORF-Sendung Club 2 vom 10. 09. 1985 berichtete Frau Christa Polster, mit welchen Worten sie 1967 zwei Tage nach der Geburt ihres Sohnes über dessen Diagnose „Trisomie 21“ aufgeklärt wurde. Dem ebenfalls in der Diskussionsrunde anwesenden Prim. Prof. Dr. Andreas Rett, damals noch beinahe unumstrittene Autorität auf diesem Gebiet, hielt sie vor, beim Besuch seines Instituts am Rosenhügel in Wien allein auf die zu erwartenden Defizite ihres Sohnes aufmerksam gemacht worden zu sein.

Rett parierte den Angriff mit einer Liste sämtlicher Vorzüge von Menschen mit Trisomie 21: ein großartiges Gedächtnis, starke Musikalität, unerhörte Anhänglichkeit, praktische Intelligenz. Die möglicherweise als Trost gemeinten Superlative waren wohl auch mangelnder empirischer Erfahrung geschuldet. 1967 gab es auch noch keine Pränataldiagnostik, aber gerade unter heutigen Voraussetzungen sind solche Zuschreibungen zynisch: Welches Gesetz sollte denn zum Beispiel die Geburt eines Mozart oder eines MacGyver zu verhindern erlauben?

„Behinderung kann ein großes Geschenk sein. Sie bringt einen dazu, sich mit anderen Dingen auseinanderzusetzen, bewusst zu werden für die Bedürfnisse anderer“, plädierte die österreichisch-amerikanische Schauspielerin Leslie Malton in einem Interview mit dem Tagesspiegel 2013 leidenschaftlich für Inklusion. Jahrzehntelang hatte sie in dem Glauben gelebt, ihre elfeinhalb Monate jüngere Schwester als Kind mit dem „Rett-Syndrom“ angesteckt zu haben.

Andreas Rett war einer jener Ärzte, die seit den 1950er Jahren das sogenannte „medizinische Modell“ von Behinderung etablierten, deren Ursachen er vorzugsweise an Chromosomenanomalien erforschte, die er allerdings – wie im Falle von Maltons Schwester – nicht immer korrekt zu diagnostizieren, geschweige denn erfolgreich zu therapieren verstand. Eine der Biologie des Individuums selbst angelastete, nicht zu tilgende „Erbschuld“ nimmt die Betroffenen vom Heilsversprechen der Medizin aus und in der Folge auch von der gleichberechtigten Zugehörigkeit zur Gemeinschaft.

Um ein Individuum auszuzeichnen, bedarf es bestimmter Eigenschaften und Merkmale, die nur diesem gehören und durch die es sich von den anderen Mitgliedern jener Gruppe, zu der es gerechnet wird, unterscheidet. Dieselben Merkmale und Eigenschaften kann man aber als Mehrwert verstehen, den das Individuum der Gruppe anbietet. Das ist nicht immer so einfach. Nur in einer Herde schwarzer Schafe fällt ein schwarzes Schaf nicht weiter auf. Das heißt aber auch, dass nicht das soziokulturelle Konstrukt der Gruppe „Menschen mit Behinderung“, sondern nur der individuelle Mensch Anknüpfungspunkt einer inklusiven Pädagogik sein kann.

Es ist auch nicht leicht, innerhalb einer Herde von Unschuldslämmern den Wolf im Schafspelz zu identifizieren. Aber letztlich entscheidet die Herde, ob sie ihn als Heilsbringer anbetet, oder als Rosstäuscher und Zyniker entlarvt.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

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beobachter52
vor 6 Monaten

@c.haplin: Dann soll man also sofort nicht nur alle Sonderschulen auflassen, sondern auch die Werkstätten und Wohnheime der Lebenshilfe, des Aufbauwerks der Jugend usw.? Viele Eltern (die durch solche Einrichtungen entlastet werden) und viele Menschen mit besonderen Bedürfnissen (die sich in diesen Einrichtungen wohl fühlen) werden jubeln .....

 
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    c.haplin
    vor 6 Monaten

    Grundsätzlich würde es schon einmal von Vorteil sein, wenn man sich neuen Konzepten gegenüber offen zeigt. Die Konzepte die der heuteigen Arbeit in diesem Bereich zugrunde liegen sind inzwischen ca. 60 Jahre alt. Solange wir als Gesellschaft daran festhalten, dass es ausreichend ist, dass jemand entlastet wird weil er sein Kind beaufsichtigt weiß, werden wir dien UNBRK nie umsetzen können.

     
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      chiller336
      vor 6 Monaten

      "Solange wir als Gesellschaft daran festhalten, dass es ausreichend ist, dass jemand entlastet wird weil er sein Kind beaufsichtigt weiß ..." du machst es dir ganz schön leicht. vielleicht müssen eltern arbeiten weil sie rückzahlungen für wohnungen, häuser etc zu tätigen haben und zusätzlich fallen auch kosten für behindertenunterbringungen - lebenshilfe zb - an. du tust grad so, als ob familien und einzelpersonen behinderte abschieben, damit sie sich ein schönes unbekümmertes leben leisten können - was ist das bitte für eine ansicht??

       
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      r.ingruber
      vor 6 Monaten

      chiller336: Den Unterschied zwischen dem Zitat am Anfang und dem, was Sie in Ihrem letzten Satz in dieses hineininterpretieren möchte ich Klavierspielen können!

       
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      c.haplin
      vor 6 Monaten

      @chiller336 Ich versuche gerade ihren Gedankengängen zu folgen, aber ich schaffe es nicht. Wo habe ich etwas geschrieben, das diese absurde Interpretation rechtfertigt. Ich will in keinster Weise die Leistung der Eltern geringschätzen. Ich glaube, dass grundsätzlich jeder Elternteil will, dass sein Kind glücklich ist und bestmöglich begleitet wird. Somit ist es sicherlich auch im Sinne der Eltern, wenn die Kinder so selbstständig wie möglich werden. Es wird also wohl nicht im Sinne der Eltern sein, dass die Kinder lediglich beaufsichtigt sind! Und woher du dieses Thema "unbekümmertes Leben leisten können" nimmst ist mir auch bei mehrmaligem durchlesen meiner Zeilen schleierhaft.

       
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      chiller336
      vor 6 Monaten

      ich schreibs nochmal: "Solange wir als Gesellschaft daran festhalten, dass es ausreichend ist, dass jemand entlastet wird weil er sein Kind beaufsichtigt weiß ..." ... es ist einzig und allein ihre ansicht davon, das "wir als gesellschaft" .... das schliesst dich ein, dass es offenbar ausreichend ist dass jemand entlastet wird, weil er sein kind beaufsichtigt weiß. das alles klingt im gesamten sehr negativ ... dieser jemand hat vielleicht gar keine andere möglichkeit als sein kind unter fremde beaufsichtigung zu stellen - eben aus den von mir schon vorhin erwähnten gründen. heisst dass dieser "jemand" sich bestimmt lieber selber um die beaufsichtigung seines kindes/seiner kinder kümmern würde, wenn er denn könnte. beobachter 52 hat dies ganz genau beschrieben .... und das mein ich damit

       
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      Senf
      vor 6 Monaten

      chiller336, was isch denn mit dir los, warst beim Wirtn?

       
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      c.haplin
      vor 6 Monaten

      Werter chiller336, dein letztes Posting kapierst jetzt wahrscheinlich nur mehr du selbst. Ich bin da leider vollkommen überfordert. Falls du an einer konstruktiven Diskussion interessiert bist und nicht lediglich an einem Interpretationsforum meiner Worte, werde ich mich natürlich gerne dazu zur Verfügung stellen.

       
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c.haplin
vor 6 Monaten

Das ist so eine Sache mit der Inklusion. Wie bereits in einer früheren Diskussion zu diesem Thema klar wurde, ist vielen der Begriff nicht geläufig und der Unterschied zur Integration auch gar nicht bewusst. Inklusion betrifft die gesamte Gesellschaft und nicht lediglich einen speziellen Teil wie die Schule oder den Arbeitsmarkt. Inklusion meint, dass jeder Mensch in einer Gesellschaft gleich berechtigt ist und dass jeder von jedem etwas lernen kann. Somit kann Inklusion niemals in einem abgeschotteten Bereich wie einer Sonderschule oder einer Werkstäte der Behindertenhilfe stattfinden. Es ist dabei auch egal wie oft man sich als Gruppe in einer anderen Schule oder einem anderen Betrieb auf Besuch befindet. Das sind dann alles nette Momente und immer für einen schönen Zeitungsbericht gut, aber das verändert unsere Sichtweise nicht nachhaltig. Inklusion geht uns alle an und findet im Alltag statt - niemals im Rahmen von Separation.

 
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