Antonio Natali war an diesem Tag einfach zu Hause geblieben. Aus Protest. Der Direktor der Florentiner Uffizien wollte damit erreichen, dass auch eines der Kronjuwelen des ihm anvertrauten Museums sein Heim nicht verlässt. Leonardo da Vincis „Verkündigung“ wurde an diesem 12. März 2007 trotzdem nach Japan geflogen. Dort war sie im Rahmen der „Primavera Italiana“ drei Monate im Nationalmuseum von Tokyo ausgestellt.

„Das ist, als würde man die Mona Lisa ausschicken, um für französischen Käse zu werben“, schimpfte Senator Paolo Amato, der sich am Eingang zum Museum mit einer Handvoll Mitstreitern angekettet hatte. „Die Verkündigung muss in den Uffizien bleiben!“ forderten die einen, „Rutelli, lass Florenz in Ruhe!“ stand auf den Transparenten der anderen. Francesco Rutelli war Kulturminister und stellvertretender Ministerpräsident im Kabinett Romano Prodis. 2019, zum 500. Todestag Leonardos, war die Verkündigung nicht auf der Party im Louvre, und zwar aus demselben Grund, aus dem die Mona Lisa zur Hauptattraktion der Veranstaltung wurde. Beide Gemälde dürfen ihr Museum nicht mehr verlassen.
Das Schweigen der Diva
1911 stahl der Anstreicher Vincenzo Peruggia die Mona Lisa in der Absicht, sie an die Uffizien zu verkaufen. In den zwei Jahren ihrer Abwesenheit war die Leerstelle mit mehr oder weniger prominenten Platzhaltern besetzt, durch ihr Verschwinden wurde die Mona Lisa jedoch erst so richtig bekannt. Das gilt unter veränderten Vorzeichen bis zum heutigen Tag. Die Diva ist für niemanden mehr zu sprechen!
Obwohl kaum jemand sie wirklich zu sehen bekommt, ist die Mona Lisa die unbestritten berühmteste Dame der Welt. 1956 wurde sie mit Säure begossen und mit Steinen beworfen. Diese „kindlichen Aggressionen“ versuchte Salvador Dalí unter Berufung auf Sigmund Freuds „Offenbarung von Leonardos Libido und unterbewussten erotischen Fantasien über seine eigene Mutter“ mit einer fiktiven Filmsequenz a la Michelangelo Antonioni zu deuten:
„Ein einfacher, naiver Sohn, unbewusst in seine Mutter verliebt, verwüstet vom Ödipuskomplex, besucht ein Museum, für ihn gleichbedeutend mit einem Laufhaus: Akte, schamlose Statuen, Rubens. Inmitten all dieser fleischlichen und libidinösen Freizügigkeit ist er verblüfft, das Porträt seiner eigenen Mutter zu entdecken. Seine eigene Mutter, hier! Und schlimmer noch, seine Mutter lächelt ihn zweideutig an. Angriff ist seine einzig mögliche Reaktion auf dieses Lächeln – oder er kann das Gemälde stehlen, um es fromm vor dem Skandal und der Schande der Entlarvung in einem öffentlichen Haus zu verbergen.“
Dalís Beitrag „Why they attack the Mona Lisa“ erschien in der Zeitschrift ArtNews im März 1963, unmittelbar nachdem Leonardos Gemälde zum ersten und letzten Mal in den USA gezeigt worden war: im Januar in der National Gallery in Washington und wenige Wochen darauf im Metroplitan Museum of Art in New York. Etwa eine Million Besucher sahen sie dort, und wenn man davon ausgeht, dass auch nur jeder dritte eine gedruckte Broschüre in die Hände bekam, dann wurde das Bild allein für diesen Zweck auch ein paar hunderttausendmal abgedruckt.
Eine dieser Reproduktionen wählte Andy Warhol als Vorlage für einen Siebdruck, der das Bildnis in fünf Reihen zu jeweils sechs Einzelbildern anordnet. Und wenn ein zeitgenössischer Bericht die damalige Situation im Museum ähnlich beschreibt, wie man sie heute vom Louvre her kennt, so ist ihr Titel „30 sind besser als eine“ ein mehr als treffender Kommentar: Schließlich war die Mona Lisa nach ihrer Wiederauffindung 1913, spätestens aber seit sie 1956 hinter einer Panzerglasscheibe verschwand, nicht einmal mehr in der Lage, das simple Versprechen „Eine ist besser als keine“ einzulösen.
Die zwei Seiten einer Ikone
Worauf aber gründet das Geheimnis der Mona Lisa, das nicht nur die Attentäter von damals, sondern auch den Betrachter ihrer unzählbaren Reproduktionen bis heute verwirrt? Schon 1919 hat der Dadaist Marcel Duchamp mit einer doppelsinnigen Parodie auf die Zweideutigkeit hingewiesen, indem er eines dieser Abbilder mit einem Schnurrbart verzierte und mit der Buchstabenfolge L.H.O.O.Q. unterschrieb, deren französische Aussprache „Elle a chaud au cul“ auf Deutsch „Sie hat einen heißen Hintern“ bedeutet.
Die zwei Seiten der Mona Lisa sind jedoch weniger von vorn und von hinten zu analysieren, als vielmehr von links und von rechts. Deckt man abwechselnd die eine und dann die andere Gesichtshälfte zu, wird man bemerken, dass sie zum Lächeln nur ihren linken Mundwinkel hochzieht, und man wird einer heiteren und einer ernsten Miene begegnen. Der Wasserspiegel im Hintergrund scheint sich in der linken Bildhälfte so drastisch zu senken, dass der anscheinend logische Bruch durch die Halbfigur zwar verdeckt und gerechtfertigt ist, durch diese aber auch erst seine dynamische Wirkung entfaltet.
Um schöne und gleichzeitig richtige Bilder zu generieren hatte die italienische Renaissance unterschiedliche Strategien entwickelt, unter denen die Dreieckskomposition der Mona Lisa vielleicht die geläufigste ist. Eine Erzählung im Breitformat musste man anders aufbauen: auf einem meist in der Bildmitte gelegenen Ausgangspunkt, an dem Bewegung und Gegenbewegung ineinandergreifen und sich gegenseitig vermitteln. In Leonardos Verkündigung ist dies der Fluchtpunkt, der Ort, an dem sich die in die Tiefe des Raumes führenden Parallelen begegnen.

Dass es durch die exakte zentralperspektivische Konstruktion in vielen anderen Bildabschnitten zu Ungereimtheiten kommt, war vielleicht mit ein Grund, weshalb man das Gemälde bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts Domenico Ghirlandaio zuschrieb. Mit der Autorschaft Leonardos jedoch werden Fehler und Schwächen zur Richtschnur, an der man die Zeitgenossen, die Vorläufer und Nachfolger misst.

1984 nahm sich Andy Warhol des Problems an. Seine im Siebdruckverfahren produzierte Serie „Details of Renaissance Paintings“ rückt unter anderen Ausschnitten aus mehr oder weniger ikonischen Bildern des 15. Jahrhunderts auch Leonardos Verkündigung in den Fokus. Das Genie der Popkultur hat das alles entscheidende Detail dieses Gemäldes gnadenlos unter der Lupe seziert und damit erst den modernen Blick auf das Gemälde geschärft: Der Gruß des Engels und der demütige Verweis Marias auf die biblische Prophezeiung der Jungfrauengeburt genügen als Kürzel für die Dramatik, die dieser kaum beachtete Bildteil entfaltet.

Leonardo da Vinci ist längst selbst zur Pop-Ikone geworden. Andy Warhols Auseinandersetzung mit dem Phänomen ist in der Ausstellung „Blicke nach Innen. Nicäa“ im Museum Schloss hautnah zu erleben. Neben seiner Interpretation der „Verkündigung“ wird auch ein mit schwarzem Pinsel lässig umrissener Ausschnitt aus dem „Letzten Abendmahl“ gezeigt. Es ist aussichtslos, Leonardo in die Renaissance zurückversetzen zu wollen, doch kann es dort durchaus gelingen, ihn für ein paar privilegierte Momente von der Ausbeutung durch die Kulturindustrie freizuspielen. Andy Warhol übrigens auch!

2 Postings
Es ist immer wieder erstaunlich, wohin einen die Wege r.ingrubers in seinen Kunstbetrachtungen führen, welche unerwarteten Gesichtspunkte sich auftun. Dies ist alles nur möglich auf der Basis eines ungeheuren kunsthistorischen Wissens und Horizonts. 1960 hat mich eine Autostopp-Reise durch Italien auch nach Florenz und in die Uffizien geführt (damals noch ohne Warteschlangen zu besichtigen). Die "Verkündigung", ein Frühwerk Leonardos, hat mich damals, neben der unvollendeten "Anbetung", sofort gefangen genommen. Von der Stunde an war ich ihm verfallen. Da konnten mich auch verschiedene Kritikpunkte, wie z.B. an der Haltung des rechten Armes Marias nicht mehr irritieren.
Bravo! Das ist Kunstvermittlung.
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