„Früh übt sich, wer ein Meister werden will“, lautet ein bekanntes Sprichwort. Wie eine aktuelle Studie nun verdeutlicht, ist der Zeitpunkt „früh“ aber wohl gar nicht so entscheidend auf dem Weg zum Erfolg. Doch der Reihe nach: Bislang ging man in der traditionellen Begabungs- und Expertiseforschung davon aus, dass die wesentlichen Faktoren zur Entwicklung von Höchstleistungen in frühen Begabungen und einem langjährigen, intensiven Training in einer Disziplin begründet sind. Dementsprechend sind Programme zur Begabtenförderung bis dato bestrebt, die Besten in jungen Jahren auszuwählen und ihre Entwicklung durch intensives Training in der jeweiligen Disziplin weiter zu beschleunigen. Ein Kind fällt im Kindergarten durch außerordentliches Taktgefühl oder Ballgeschick auf? Zack, werden alle Bemühungen dahin gelenkt, genau dieses Talent frühzeitig zu fördern und eine weitere Spezialisierung voranzutreiben. Andere Interessen und Fähigkeiten sind dagegen bestenfalls zweitrangig.
Top-Performer zeigen allmähliche Leistungsentwicklung
Allerdings ist genau das nicht der ideale Weg in der Nachwuchsförderung, wie ein Forschungsteam nun herausgefunden hat. Dessen Untersuchung von fast 35.000 internationalen Top-Performer:innen, darunter Nobelpreisträger, Olympiamedaillengewinner, Schachgroßmeister und renommierte Komponisten, führt vor Augen, dass diese Weltklasse-Talente eine andere Entwicklung durchlaufen haben, als bisher vor Forschung und Praxis angenommen. Über die Disziplinen hinweg zeigt sich nämlich, dass die Besten in jungem Alter und die späteren Besten im Höchstleistungsalter nicht dieselben Personen sind, sondern überwiegend verschiedene Menschen. Diejenigen wenigen, die die Weltspitze erreichen, gehörten in jungen Jahren somit noch nicht zu den Besten ihres Alters, sondern zeigten eine eher allmähliche Leistungsentwicklung. Dazu kommt, dass sich spätere Höchstleistende nicht früh auf eine Disziplin spezialisiert haben, sondern sich zunächst in verschiedenen Bereichen engagierten, also beispielsweise unterschiedliche Studienfächer, Musikgenres, Sportarten oder Berufe ausprobierten.

Genau hier dürfte auch die entscheidende Abweichung zu frühen Talenten liegen: Indem man in mehreren Disziplinen Erfahrungen sammelt, steigen die Chancen, im Laufe der Jahre die eine optimale Disziplin für sich zu finden. Gleichzeitig wirken sich die Erfahrungen aus den anderen Disziplinen förderlich aus: Durch die unterschiedlichen Lernerfahrungen werden Kompetenzen ausgebaut, die das spätere fortlaufende Lernen auf höchstem Niveau verbessern. Zudem dämpft multidisziplinäres Engagement entwicklungshindernde Faktoren, wie ein Motivationstief, Burnout oder Verletzungen. „Wer eine optimale Disziplin für sich findet, die besten Lernkompetenzen entwickelt und verminderten Risiken für entwicklungshindernde Faktoren ausgesetzt ist, verfügt später über bessere Chancen, Weltklasse-Leistungen zu erbringen“, sind sich die Wissenschaftler:innen einig.
Vielfältige Interessen statt frühe Spezialisierung
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass eine zu frühe Spezialisierung auf eine Disziplin kontraproduktiv sein kann. Junge Menschen sollten ermuntert werden, mehreren Interessensgebieten nachzugehen, und durchaus in zwei bis drei Disziplinen gefördert werden – auch wenn diese inhaltlich nicht unmittelbar zusammenhängen (etwa Sprache und Mathematik oder Geografie und Philosophie).
Auf Grundlage dieser neuen Erkenntnisse können Wissenschaftler:innen die Theorieentwicklung in der Begabungs- und Expertiseforschung vorantreiben. Ebenso sollten sie ein Anstoß für Politik und Programm-Manager:innen sein, existierende institutionelle Rahmenbedingungen zu hinterfragen und ein verändertes, evidenzbasiertes Handeln zu fördern. „Mit solchen Bemühungen sollte es gelingen, die Entwicklung von mehr Weltklasse-Leistungen in unterschiedlichen Disziplinen wie Wissenschaft, Musik, und Sport – und potenziell auch in anderen Feldern – besser zu fördern,“ resümiert Michael Barth.
Keine Postings
Sie müssen angemeldet sein, um ein Posting zu verfassen.
Anmelden oder Registrieren