Spaziergang auf dem
Acker Gottes
Spaziergang auf dem Acker Gottes
Ein Spaziergang der besonderen Art führt uns über den Friedhof der Lienzer Stadtpfarrkirche St. Andrä – und durch die Geschichte des Gottesackers. Ein spannender Friedhofsbesuch.

Wenn wir durch fremde Städte schlendern, gehen wir gerne auf Kirchen zu. Zumindest in unseren Breiten. Dort vermuten wir Sehenswertes und Erhellendes, vielleicht Aufschluss über die Geschichte einer Stadt, in jedem Fall Kunst- und Prunkvolles. Beda Weber beschrieb 1838 in seinem Werk „Das Land Tirol. Handbuch für Reisende“ jene Kirche, die mehr als jede andere das Stadtbild von Lienz prägt:

„Das merkwürdigste Gebäude von Lienz ist die Stadtpfarrkirche, auf einem Hügel am linken Ufer der Isel, von gemeinen Häusern gesondert und mit einem großen Gottesacker auf der luftigsten Stelle umfangen.“ Heute ist die Gasse am Fuß des Kirchbichls nach Beda Weber benannt. Und wenn man, meist schon leicht schwitzend, durch das untere Tor in den Innenhof der Stadtpfarrkirche St. Andrä hineinspaziert, dann ahnt man auch, was der Schriftsteller mit einem „Gottesacker“ meinte. Jahrhundertelang hatte der Friedhof von St. Andrä nämlich innerhalb dieser Kirchenmauern Platz, weil er tatsächlich kaum mehr als ein Acker war, von einer Einfriedung umgeben. Daher das Wort Friedhof, dessen Ursprung nicht der Friede ist. Friedhöfe sind kultur- und sozialgeschichtliche Zeugen der sich ständig wandelnden Beziehung zwischen den Lebenden und den Toten.

In der Antike wurden die Toten außerhalb der Städte begraben, an den Fernstraßen. Erst ab dem 5. Jahrhundert änderte sich das. Mit dem aufkommenden Christentum wanderten die Grabstätten in die Zentren der Siedlungen, möglichst nahe an die heiligen Stätten heran, die Kirchen. Noch war der Tod ein vertrauter Begleiter, Bestandteil des Lebens, akzeptiert als eine letzte Lebensphase der Erfüllung.

Diese Steine lagen als Pflaster früher unten in der spätmittelalterlichen Stadt.

Nicht nur für Beda Weber der markanteste Bau von Lienz: die Stadtpfarrkirche St. Andrä. Ihr Innenhof war über Jahrhunderte zugleich Gottesacker. Hier grasten Kühe auf den Gräbern.

Man starb in der Gemeinschaft, umgeben von Freunden und Familie. Die Menschen bereiteten sich auf den Tod vor, nicht nur durch Beichte und letzte Kommunion. Ab dem 15. Jahrhundert waren Sterbeanleitungen verbreitet, die das „gute Sterben“ zu einer Kunst erhoben, zur „Ars moriendi“. Lag jemand im Sterben, rief man den Geistlichen, nicht den Arzt. Das änderte sich ab dem 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert vertauschten sich schließlich die Rollen. Am Ende des Lebens rückten neben dem Sterbenden immer mehr die Hinterbliebenen in den Vordergrund und deren emotionaler Abschied von geliebten Angehörigen. Das prägt bis heute unser Bild von Friedhöfen als letzter Ruhestätte.

Wer glaubt, dass Gräber früher mit mehr Liebe gepflegt wurden als heute, der irrt. Den Familien stand im Mittelalter nicht einmal ein reserviertes Grab zu. Damals erreichte nur die Hälfte eines Jahrgangs das 21. Lebensjahr. Sterben war Alltag. Der Reihe nach wurden die Toten vergraben und deren letzte Ruhestätte mit einem einfachen Holzkreuz gekennzeichnet. War es vermodert, galt auch der Leichnam darunter als verwest, das Grab wurde ausgeräumt und neu belegt. Blumen? Weihwasserbecken? Fehlanzeige. Visitationsberichte aus dem 16. und 17. Jahrhundert schildern makabere Zustände der Landfriedhöfe, in denen Leichen oft nur oberflächlich verscharrt wurden und streunende Hunde mit den Gebeinen der Toten spielten.

Die kleine Kapelle am alten Friedhofseingang war früher auch „Beinhaus“ und Gedenkstätte für verstorbene Priester der Pfarre St. Andrä.

St. Ändrä war eine der reichsten Pfarren im Land und dennoch herrschten auch hier in Sachen Totenruhe recht lockere Sitten. 1581 erließ der Lienzer Gemeinderat eine Verordnung, dass der Mesner künftig kein Vieh mehr auf dem Friedhof weiden lassen solle. Die umherliegenden Gebeine solle man aufheben und in die Totengruft oder an einen ihnen gebührenden Ort bringen. Konkret in das Beinhaus, das wir am Eingang in den Friedhof heute noch sehen. Es ist die kleine Kapelle, an der viele Friedhofsbesucher jahraus, jahrein völlig achtlos vorübergehen. Kehren wir heute einmal ein und schauen wir uns um. Es ist ruhig hier, irgendwie jenseitig, ein guter Ort, um andächtig zu sein, egal woran man glaubt. Hier spürt man den Tod. Votivbildchen, Kerzen, Epitaphe, an der östlichen Wand zwölf Gedenksteine für ehemalige Priester der Pfarre St. Andrä. Früher hingen sie an prominenterer Stelle. Als Bildhauer Jos Pirkner ein neues Priestergrab direkt neben der Aufbahrungshalle schuf, wanderten die alten Tafeln hierher. Kein schlechter Platz.

Das alte Tor in den Innenhof mit der Gedenktafel für den „gewesten Stadtrichter“, den die Franzosen als Geisel genommen hatten.

Noch eine Tafel fällt uns auf, als wir die kleine Kapelle verlassen. Direkt im Torbereich hängt sie an der Wand. „Hier ruhet / der geweste Stadtrichter zu Lienz / Joseph Peter Aigner…“ Zu diesem Mann gäbe es eine Geschichte, haben Sie Lust darauf? Na gut: Wir schreiben das Jahr 1797. Es ist Anfang April und der französische General Joubert zieht mit einem Korps von mehr als 8.000 Soldaten durch das Pustertal nach Lienz. Er fordert Unmengen von Lebensmitteln und Wein für seine Truppe, es kommt zu Plünderungen. Außerdem wollen die Franzosen 100.000 Gulden, die man in der Stadt aber nicht aufbringen kann. Also nimmt Joubert kurzer Hand den Lienzer Bürgermeister Oberhueber und den Stadtrichter Joseph Peter Aigner als Geiseln, nebst anderen honorigen Bürgern. Sie werden nach Klagenfurt mitgeschleppt, bis es den Lienzern gelingt, sich bei Villacher Bürgern einen Teil des geforderten Geldes auszuleihen und die Geiseln freizukaufen.

1880, fast hundert Jahre später, beschlossen die Lienzer übrigens, den damals kotigen Weg durch die Andrä Kranz-Gasse bis zum Johannesplatz zu pflastern. Schwere Steine wurden für diese ersten Gehsteige in Ainet gebrochen. Einige davon wanderten später auf den aufgelassenen Gottesacker von St. Andrä, darunter zwei ehemalige Grabplatten, deren Kreuze man gut auf dem Gehweg von der Andachtskapelle in Richtung Kirchentor erkennt. Achten Sie einmal darauf.

Die Rundbogen-Nischen an der Ostmauer, die fast alle von Johann B. Oberkofler gestalten wurden. Mit einer Ausnahme: Den Hubertushirsch (oben) malte Franz Walchegger.

Hier an der Südmauer liegen die ältesten noch erhaltenen Gräber, sie stammen teilweise aus dem 16. Jahrhundert. Wir spazieren aber hügelaufwärts, zu bunten Rundbogen-Nischen an der Ostmauer, deren Motive sehr viel jünger sind. Praktisch alle hat erst Mitte der 1950er-Jahre Johann B. Oberkofler gemalt, ein künstlerisch begabter Priester aus Brixen, der in Süd- und Osttirol viele Spuren hinterließ, darunter das Deckenfresko der Pfarrkirche in St. Jakob, auf dem, man glaubt es kaum, die Austrofaschisten Engelbert Dollfuß, Ernst Rüdiger Starhemberg und Emil Fey noch heute zu sehen sind, nebst dem letzten österreichischen Kaiser Karl. Mitten im Spalier der Oberkofler-Gemälde bricht ein Bild aus der Nazarener-Ästhetik aus. Ein Hubertushirsch, gemalt von Franz Walchegger! Walchegger setzte sich künstlerisch immer wieder mit dem Themenpaar „Tod und Leben“ auseinander. Das Formale, Flächenhafte seiner Grabmalerei und deren kitschbefreite, expressionistische Farbigkeit sind eine gute Überleitung zur nächsten Station unseres Friedhofsspaziergangs, der Kriegergedächtniskapelle an der Nordseite des Kirchenhofes.

Voller Geschichten über Leben und Tod – der Friedhof von Lienz.

Als die Kapelle gebaut und eröffnet wurde, musste Lienz einen handfesten „Kunstskandal“ verkraften. Der Gemeinderat beauftragte 1923 Albin Egger-Lienz mit der Gestaltung der Kapelle. Der Maler wünschte sich Clemens Holzmeister als Architekt und so entstand ein Gesamtkunstwerk, zu dessen Einweihung durch den Bozner Weihbischof Sigismund Waitz 1925 sogar Bundespräsident Michael Hainisch und Landeshauptmann Franz Stumpf nach Osttirol kamen. Dem damaligen Dekan von St. Andrä, Gottfried Stemberger, imponierte das wenig. Er lag mit Egger im unversöhnlichen Kulturkampf. Der moderne Kapellenbau passe nicht zur gotischen Kirche, monierte Stemberger und Egger ätzte zurück, dass man dann eben den Turm von St. Andrä abtragen und passend zur Kapelle neu bauen müsse. Er spende gerne ein Bild zur Finanzierung des Neubaus.

Die Arkaden des Kriegerdenkmals. Auf den Tafeln stehen die Namen von 3.234 Gefallenen beider Weltkriege.
Die von Albin Egger-Lienz gestaltete Gedächtniskapelle löste einen Kulturstreit aus.
Der konservative Klerus nahm Anstoß an der Christusdarstellung des Künstlers.

Rasend machten den Dekan und den konservativen Klerus vor allem Eggers Bild vom „Auferstandenen“. Für den Künstler „der schönste Christus, der je gemalt worden ist“, war das Bild für Stemberger schlicht eine Gotteslästerung. Ein Urteil, dem sich 1926 die Glaubenskongregation in Rom anschloss und ein „Interdikt“ verhängte. In der Kapelle durften keine Messen gelesen werden. Im gleichen Jahr starb Albin Egger. Er wurde nach einem Trauerzug durch die Stadt in einer Ehrenarkade des städtischen Friedhofs beerdigt. Ein Jahr später brachte man den Leichnam in aller Stille dorthin, wo sich der Künstler verewigt hatte, in seine Kapelle. Das Interdikt erlosch erst 62 Jahre nach Eggers Tod. Die Kapelle wurde 1988 noch einmal geweiht. In den Arkaden und in der Kapelle findet man auf Terracotta-Gedenktafeln die Namen von 3.234 Gefallenen beider Weltkriege. Jeder Osttiroler Gemeinde ist ein Bogen zugeteilt. Schreitet man alle Arkaden ab, findet man auch Innichen, Innichberg, Sexten, Winnebach, Wahlen und Vierschach. Anfang der zwanziger Jahre, als das Denkmal errichtet wurde, war der erste Weltkrieg eben erst beendet und man zog beim Totengedenken die Bezirksgrenzen wie vor Kriegsbeginn.

Jetzt wird es Zeit, vom ehemaligen Gottesacker innerhalb des Pfarrhofes hinaus zu schlendern, unter naturgeschützten Bäumen hinauf zum heutigen Friedhof der Stadt. Wir halten uns nach dem Eingangstor rechts und bleiben noch ein wenig bei Albin Egger. Dessen Eltern liegen hier begraben, „im Leben wie im Tod getrennt“, wie der Künstler schreibt, der 1868 als uneheliches Kind von Maria Trojer und Georg Egger geboren wurde. Sein Name war zunächst Ingenuin Albuin Trojer. Erst 1877 erhielt er die Bewilligung, den Familiennamen Egger zu führen. Vater Georg Egger, der in der Schweizergasse ein Fotoatelier betrieb, liegt im „Meirergrab“ an der Ostmauer des Friedhofs und genau gegenüber, durch den Gehweg getrennt, „ruht meine vielgeprüfte Mutter“, wie Egger schreibt. Sie starb im Alter von 69 Jahren.

Ein markantes Grab an der Ostseite des städtischen Friedhofs ist jenes von Matthias Marcher, einem der ersten Lienzer Sozialdemokraten und Bergpionier.

Geht man den Weg an der Ostmauer entlang weiter den Friedhofshügel hinauf, begegnet man einem anderen markanten Charakter. Der Mann, der hier mit Adlernase und Schnauzbart in Stein gemeißelt wurde, ist Matthias Marcher, einer der ersten Sozialdemokraten der Stadt und nicht nur deshalb eine Art Rebell und Querdenker. Marcher lebte von 1853 bis 1926 und durchwanderte als Schuhmachergeselle die Donaumonarchie, bevor er mit neuen Ideen und politischen Ansichten nach Lienz kam und in der Messinggasse eine Schuhmacher-Werkstatt eröffnete. Zahlreiche Erstbesteigungen und -begehungen in der Schobergruppe und den Lienzer Dolomiten gehen auf das Konto des begeisterten Bergpioniers, an den nicht nur die Marcher-Straße erinnert, sondern gleich zwei „Marchersteine“ – einer am Weg zur Karlsbaderhütte und einer im Debanttal.

Wir haben mittlerweile den prunkvollsten Sektor des Lienzer Friedhofs erreicht, die Arkadengräber rechts und links der Aufbahrungshalle. Hier gedenken die alteingesessenen Bürgerfamilien ihrer Verstorbenen, die in fast fürstlich anmutenden Grabstätten ruhen. Viele davon gestaltete ein Bauernsohn aus Matrei: Virgil Rainer. Der gelernte Tischler, der an der Königlichen Kunstgewerbeschule in München und an der Akademie in Wien studierte, schuf vom Ende der zwanziger Jahre bis nach dem zweiten Weltkrieg eine Reihe von prächtigen Arkadengräbern, etwa jene der Familien Mahl und Geiger (1927), Ladstätter, Winkler (in den dreißiger Jahren) und Henggi (1947). Rainer, dessen Denkmäler und Großplastiken „zwischen Matrei und Milwaukee“ zu finden sind, starb 1948 und liegt auf einem Wiener Friedhof wenige Meter neben einem seiner eigenen Kunstwerke begraben.

Unter den Arkaden zu beiden Seiten der Aufbahrungshalle ruhen die Verstorbenen alteingesessener Lienzer Bürgerfamilien in teilweise prunkvollen Grabstätten, von denen viele der Matreier Bildhauer Virgil Rainer gestaltete.

Nachdem wir durch die Arkaden gewandelt sind, überqueren wir den Zauchenbach und nehmen den Weg abwärts durch die beiden Kriegerfriedhöfe. Der östlich gelegene, direkt unter der Kapelle, erinnert an die Gefallenen des ersten Weltkrieges. Zentral im Mittelpunkt dieses Soldatenfriedhofes steht ein Denkmal, das der Volksmund „Franzosengrab“ nennt, obwohl unter dem Kreuz mit Lorbeerkranz, gestaltet von Kunstschmied Hermann Pedit senior, vorwiegend österreichisch-ungarische Soldaten begraben sind. Aber eben nicht nur. Nachdem man östlich von Lienz in der Mienekugel auf einem Feld ein Massengrab französischer Soldaten fand, wurden auch deren sterbliche Überreste hier beigesetzt.

Nebenan ist der Soldatenfriedhof des 2. Weltkriegs, eine schlicht gehaltene Grab- und Gedenkstätte für Frontsoldaten, die diesem mörderischen Weltbrand zum Opfer fielen. Mit ihnen begraben sind Kriegsschicksale, geprägt von Grausamkeit und Tod, von Kämpfen und Gewalt ohne jeglichen Sinn. Auch Michael Dzula aus der Ukraine und Marian Binczyk aus Polen ruhen hier, zwei Zwangsarbeiter, die bei Iselsberger Bauern arbeiteten. Sie wurden 1942 auf Veranlassung der Gestapo „wegen des Kontaktes mit Osttirolerinnen“ öffentlich gehängt. Alle in der Region stationierten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurden gezwungen, der Hinrichtung beizuwohnen. Nach 1945 wurden Dzula und Binczyk auf dem Lienzer Soldatenfriedhof zur Ruhe gebettet. Eine der betroffenen Frauen überlebte 30 Monate Haft im KZ Ravensbrück.

Unser Rundgang endet auf den Soldatenfriedhöfen beider Weltkriege. Markant: das „Franzosengrab“.

Hier endet unser Friedhofsrundgang, der nur wenige Seiten eines dicken Buches aufschlug, voll mit Geschichten über Leben und Tod, die dieser Gottesacker am Fuße der Pfarrkirche St. Andrä erzählen kann. Vielleicht hat mancher Leser, manche Leserin ja Lust bekommen, einmal mit anderen Augen durch die Reihen der Gräber zu spazieren, Inschriften zu lesen und bewusst in die Gesichter auf den oft schon vergilbten Bildern Verstorbener zu blicken. Auch ohne diese Menschen und ihre Schicksale zu kennen, spürt man hier wie nirgendwo sonst die eigene Endlichkeit, die Vieles relativiert, was eben noch wichtig schien. Nicht umsonst fragt sich Sokrates (*469 v. Chr.; † 399 v. Chr.), der griechische Philosoph:

Niemand kennt den Tod. Es weiß auch keiner, ob er nicht das größte Geschenk für den Menschen ist.
Sokrates
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