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Information im postfaktischen Zeitalter – man lässt sich bestätigen, woran man glauben möchte. Symbolfoto: istock/bombuscreative

Information im postfaktischen Zeitalter – man lässt sich bestätigen, woran man glauben möchte. Symbolfoto: istock/bombuscreative

Postfaktisch – ein paar Sätze zum Wort des Jahres

Wir haben uns die Fakten schon immer zurechtgebogen. Nur nicht so krass.

Jetzt ist es also gekürt, das „Wort des Jahres 2016“ und nicht ganz unerwartet heißt es: „postfaktisch“. Gemeint ist damit, dass das, was ist, kaum noch Einfluss hat auf das, was wir glauben und fühlen. Bei der Eröffnung der Lienzer Polizeizentrale am vergangenen Freitag nahm das Modewort zwar keiner der Festredner in den Mund, aber alle sprachen davon. Der Landeshauptmann und die Polizeikommandanten rätselten, warum die Statistik beweist, dass unser Land viel sicherer geworden ist und die Menschen dennoch verunsichert sind, voll irrationaler Ängste, an denen Fakten offenbar nichts ändern können. Vor einigen Wochen erklärte mir eine Lienzer Geschäftsfrau, dass man heutzutage als Frau nicht mehr angstfrei auf dem Iselkai spazieren gehen könne. Schuld daran seien natürlich „die Ausländer“. Selbstverständlich entspricht diese suggerierte Angst nicht den Tatsachen. Nicht nur der Iselkai, ganz Osttirol ist sicher. Die Kriminalitätsrate ging in den letzten zehn Jahren sogar um 30 Prozent zurück. Zudem wohnen in Osttirol weniger Ausländer – die Mehrzahl übrigens Deutsche – als in praktisch allen anderen Regionen Österreichs. Siehe Statistik. Fakten? Wurscht. Glauben wir nicht. Die Fakten sind getürkt. Vom „System“, von den linken Gutmenschen, von der „Lügenpresse“. Und wo steht dann die Wahrheit? Na klar, auf Facebook! Im gleichen Maß, mit dem die Glaubwürdigkeit des politischen und medialen Establishments sinkt, steigt das Gewicht des privat verbreiteten Gerüchts. Früher hat man die Stimme gesenkt und anderen ins Ohr geflüstert, was man „möglicherweise“ für wahr hielt. Heute teilt man es auf Facebook, offen, zweifelsfrei – und ungeprüft wie eh und je. Der Effekt ist gefährlich. Wir haben uns die Fakten schon immer zurechtgebogen, nur niemals so krass. Heute wird das unverfrorene, hassschäumende Gerücht zum Tsunami, der nicht nur die direkt Betroffenen überrollt. Und längst schleichen sich auch Kommunikationsprofis, die mit ihren tendenziösen Botschaften in etablierten Medien nicht durchkommen, als Privatleute verkleidet in die Sozialen Medien ein. Da kann man dann enthemmt und lustvoll halb Wahres oder ganz Falsches verbreiten, versteckt hinter Scheinidentitäten. So wurden Trump & Co. groß. Nicht mit Fakten, sondern mit Lügen, verbreitet in Netzwerken, die keinen Faktencheck mehr brauchen. Und so wird auch vor unserer Haustüre Angst geschürt. Von dieser Angst nähren sich Wut, Xenophobie und die feste Überzeugung, dass alles schlechter wird, wenn nicht bald ein „Erlöser“ kommt. Der muss nichts wissen und nichts können, sondern nur laut vorbeten, woran seine Schäfchen gerne glauben. So wahr ihm Gott helfe. Ende der siebziger Jahre hatte ich eine Lieblings-TV-Serie, die hieß „Der ganz normale Wahnsinn“. Der Hauptdarsteller, ein schusseliger Autor, versucht darin erfolglos, ein Buch mit einem vielsagenden Titel zu schreiben: „Woran es liegt, dass der Einzelne sich nicht wohl fühlt, obwohl es uns allen so gut geht.“ Es lag schon damals daran, dass uns Fakten nicht interessieren. Wir möchten einfach etwas glauben und wollen nicht, dass uns jemand das Gegenteil beweist. Lieber sehen wir uns in unserer falschen Meinung bestätigt. „Rechthaber“ zu sein, befriedigt uns. Und so siegen in der „postfaktischen“ Zeit all jene, die dumpfen Vorurteilen fleißig Nahrung geben. Wohin das führt? Die zeitweise farblose, aber immerhin faktengetriebene Politik der Vernunft wird von populistischen Schreihälsen zu Grabe getragen. Koste es, was es wolle.
Gerhard Pirkner ist Herausgeber und Chefredakteur von „Dolomitenstadt“. Der promovierte Politologe und Kommunikationswissenschafter arbeitete Jahrzehnte als Kommunikationsberater in Salzburg, Wien und München, bevor er mit seiner Familie im Jahr 2000 nach Lienz zurückkehrte und dort 2010 „Dolomitenstadt“ ins Leben rief.

4 Postings

Blumenhund
vor 7 Jahren

... Wohin das führt? Die zeitweise farblose, aber immerhin faktengetriebene Politik der Vernunft wird von populistischen Schreihälsen zu Grabe getragen. Koste es, was es wolle ...

Ja sehe ich teilweise auch so - nur gibt es diese Sorte Agitatoren in allen politischen Lagern und ob die aktuelle Politik immer so ... faktengetrieben ist ... wage ich zu bezweifeln.

 
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wibul
vor 7 Jahren

Herr Pirkner, gratuliere zu diesem Artikel. Sie sprechen mir aus der Seele. Sie zeigen deutlich, was (demagogischer) Populismus von Parteien in den sozialen Medien anrichten kann.

 
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    le corbusier
    vor 7 Jahren

    da möchte ich mich auch anschließen, sehr gutes und wichtiges kommentar in einer zeit die nur von lügen und hass geprägt sind. manche politiker und präsidentschaftskandidaten spezialisieren sich ja gerade auf diese kunst, zwietracht zu säen.

     
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Franz Brugger
vor 7 Jahren

Angstfreies Spazierengehen: stimme der kolportierten Aussage der Geschäftsfrau betreff Ausländer nicht zu, mir bereitet auch eine Ansammlung offensichtlich einheimischer Jugendlicher in der Dunkelheit ein Gefühl des Unbehagens.

Angst unterliegt keiner Statistik, wieweit suggeriert? Falls ich diese Angst mit Fakten bestätigt bekäme, ist mir dann offensichtlich schon was passiert. Deswegen tu ich mir schwer einfach zu denken - da passiert eh nix.

Fakten: laut Statistik Austria sind die Gewaltverbrechen (Anzeigen) 2015 zumindest leicht gestiegen.

Mich interessiert auch ob es einen "beabsichtigten?" Kontext GESCHÄFTSfrau gibt.

 
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