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Egal ob mit oder ohne, an oder in Corona …

… irgendwann klappen wir alle unser Buch zu. Ich schließe meines heute.

(Was bisher geschah.) – Von Graz bis St. Corona sind es noch gut 180 km, und ich habe schon mehr als einmal ans Umkehren gedacht. Was glaubst du, ist besser? Ein Begräbnis in St. Corona, wo, wenn überhaupt, nicht mehr als dreißig Leute hingehen, die dann nur, um dem Kanzler zu widersprechen, behaupten, sie hätten keinen gekannt. Oder zurück nach Lienz, wo dich auch keiner mehr kennen will? Und wenn ich wollte, dass mein Tagebuch auf der Frankfurter Buchmesse endet, dann hätte ich dieses Kapitel nie anfangen dürfen.

Gleich da vorn geht es auf den Wechsel. Jetzt muss ich mich konzentrieren! Am Wechsel kenn ich mich nicht so gut aus. Im Wechsel schon. Das ist dort, wo nicht die Regeln den Abstand zwischen den Menschen, sondern die Menschen den Abstand zwischen den Regeln vergrößern. Aber sag das, bitte, nicht meiner Freundin, die weiß das noch nicht. Das heißt, sie weiß nicht, dass ich es weiß. Die glaubt immer noch, aber das führt jetzt zu weit. Siehst du, schon bin ich zu weit gefahren! Da hinten wäre die Abzweigung gewesen. Das wird wieder ein Gelächter im Forum abgeben: gescheit über den Wechsel philosophieren, aber zu blöd, ein Verkehrsschild zu lesen! Immer tiefer führt die holprige Straße in den Wald und sie wird immer enger. An Umkehren ist nicht mehr zu denken. Und jetzt fängt es noch an zu schneien. Ich schalte den Scheibenwischer auf höchste Stufe, lege den Rückwärtsgang ein und trete das Gaspedal bis zum Anschlag. Durch die Heckscheibe sehe ich, wie die Bäume Polka zu tanzen anfangen. Als sie wieder zum Stillstand kommen, schaue ich durch die Windschutzscheibe hinaus. Der Scheibenwischer funktioniert noch, nur seine Arme zeigen nach unten. Dafür fliegen die Schneeflocken aufwärts. Dann ist es finster.
Foto: Zita Oberwalder
Man sagt, dass an der Schwelle des Todes dein ganzes Leben sich wie ein Film im Zeitraffer rückwärts abspult. Bei mir ist das anders, es spult nach vorn. Ich sitze in einer riesigen Halle. Um mich das Brausen einer Orgel und vor mir ein aufgeschlagenes Messbuch. Die Buchmesse ist das allerdings nicht. Eher die Messe in der Pfarrkirche St. Andrä. Und vom Kirchenwirt bis zum Speisgitter eine endlose Schlange von Menschen, für die ich jetzt, passend zum heutigen Datum, eine Stelle in dem Buch unterschreibe: Johannes, Kapitel 16, Vers 16. Die lässt sich auch auf das Coronavirus beziehen. Am Torbogen steht der Herr Pfarrer persönlich und achtet darauf, dass nur jene eintreten, durch die Gutes geschieht. Dann folgt eine Predigt über den Unterschied zwischen dem Ablativus auctoris und dem Dativus commodi. Also zwischen demjenigen, der etwas schreibt und denjenigen, für die er es schreibt. Aus Platzgründen sind das heute nur Maskierte mit H. Die anderen Namen werden auf einen späteren Zeitpunkt vertröstet, und den Namenlosen ist die Kapelle an der Friedhofsmauer gewidmet. „Für Heinz“, schreibe ich, „für Heinz Christian, für Hermann, Hans Hermann, Herbert und für H. K.“, wie bei dem Bestseller von Thomas Bernhard, da standen die Leute auch Schlange, obwohl es den gar nicht mehr gab. Der wurde nämlich verboten, weil Thomas Bernhard damit vielen bekannten Persönlichkeiten Schaden zugefügt hat. Da wurde aus einem einarmigen Maler plötzlich ein einmaliger Armer. So etwas kann heute leicht wieder passieren. „Holzhacken“, glaube ich, hieß das Buch. Das erinnert mich an meine Volksschulzeit, als wir den Unterschied zwischen „haken“ und „hacken“ durchgemacht haben und ich hacken mit k schrieb. Am Anfang, nicht in der Mitte. Die anderen Schüler haben sich darüber sehr amüsiert, und zur Strafe mussten wir mein Wort in allen Personen und Zeiten durchkonjugieren. In der ersten Person Mehrzahl, Plusquamperfekt war dann Schluss. Der Lehrer wollte uns sofort alle heimschicken, aber das ging damals nicht so einfach wie heute. Deswegen ist er dann selber nach Hause gegangen. „Für Herta, für Hildegard“, aha, jetzt kommen die Frauen, „für Hannelore, für Heidi!!!, für Julia, für …“, Moment einmal, was war das? Ich schaue von meinem Buch auf, in die schönsten Bernsteinaugen und das bezauberndste Lächeln der Welt. Jetzt habe ich schon wieder ein schlechtes Gewissen.   E N D E
Rudi Ingruber. Foto: Brunner Images
Rudi Ingruber ist Kunsthistoriker, Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt und freier Autor – auch für dolomitenstadt.at. Sein Corona-Tagebuch erschien während der Zeit der „Corona-Krise“ in 20 Folgen. Vielen Dank, lieber Rudi, du hast uns ausgezeichnet unterhalten!  
Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

6 Postings

bergfex
vor 4 Jahren

Danke Herr Ingruber, sie haben mich mit ihren "Aussagen" immer köstlich amüsiert.

 
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Lipa
vor 4 Jahren

Die Gedankensprünge garantierten Kurzweile.

 
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nikolaus
vor 4 Jahren

Wenn alles in einem Gotteshaus endet, hättest du ja gleich zur Madonna della Corona in den Veneto fahren können (natürlich nur mit Sondergenehmigung). Du hättest dir eine halbe Stunde Fahrzeit und jegliche Wechselbeschwerden erspart. Was in dieser katholischen Wallfahrtskirche allerdings verfänglich hätte werden können für jemanden, der "Haken" und "Hacken" nicht sicher unterscheiden kann, ist die Anwendung in Kombination mit dem christlichen Hauptsymbol. Apropos: Ich freue mich schon auf deine "Wiederbetätigung" als Autor in der dolomitenstadt.at!

 
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aenda
vor 4 Jahren

... und auf der anderen Seite der Tür steht “ingresso“ oder “entrata“, und von dort tritt ein eine Lichtgestalt, uns frohe Botschaften von Wiederauferstehung und neuen Normalitäten zu verkünden... Oder, wenn wir Glück haben, ein talentierter Autor, der über die neue Normalität schreibt...

 
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    r.ingruber
    vor 4 Jahren

    Kennen Sie einen?

     
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      aenda
      vor 4 Jahren

      Ja, ja, eine ganze Menge! Ich veröffentliche sie samt den dazugehörenden Kontaktdaten im Ergänzungsregister.

       
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