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Sankt Stephanus im Anraser Heiligenhimmel

In der Pfarrkirche der Gemeinde verewigte sich mit Martin Knoller ein Schüler Paul Trogers.

Die Pfarrkirche zum hl. Stephanus in Anras wurde nach Plänen des Stubaier Priesters und Architekten Franz de Paula Penz, dem Tirol so bedeutende Sakralbauten wie die Basilika in Wilten verdankt, 1753 bis 1756 errichtet. Für die malerische Ausstattung wurde 1754 mit Martin Knoller ein junger Künstler beschäftigt, der in der Freskomalerei bislang ein weitgehend unbeschriebenes Blatt war. Gleichwohl aber schlug dieser ein Kapitel neu auf, dessen Prolog im späten 17. Jahrhundert gut sechzig Jahre ad Acta gelegt worden war: jenes der barocken Deckenmalerei in Osttirol.

Mit der malerischen Ausstattung der Pfarrkirche Anras, die dem Hl. Stephanus geweiht ist, wurde 1754 der junge Künstler Martin Knoller beauftragt. Foto: Niederwieser

„Unter den süddeutschen und österreichischen Barock-Rokokomeistern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Knoller einer der Bedeutendsten, wenn nicht der Bedeutendste. Unter seinen engeren Landsleuten aber ist er der weitaus Erste!“ So urteilt eine zum 100. Todestag Knollers erschienene Biografie, welche die Fresken in Anras verständlicherweise noch nicht als ein Meisterwerk vorstellt, sondern als eines, das die Kunstwissenschaft seither als Paradigma der Rekonstruktion eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses kennt.

Gemäß einer archivalisch kaum überprüfbaren Tradition war der 1725 in Steinach am Brenner geborene Knoller, nach der Lehrzeit bei seinem Vater und dem Innsbrucker Maler Ignaz Pögl, noch vor seinem im November 1753 abgeschlossenen Studium an der Wiener Kunstakademie ein steter Gefolgsmann Paul Trogers. Ein in der Künstlerbiografik recht häufig gebrauchter Topos macht ihn sogar zu dessen Entdeckung: Troger habe das Talent des Jünglings, den er beim Bemalen einer Hauswand beobachtet hatte, erkannt und ihn, ohne Lehrgeld zu fordern, nach Wien mitgenommen. Vermutlich war Knoller auch an Trogers Ausmalung des Brixner Doms, 1748-50, als Gehilfe beteiligt.

In Brixen wie in Anras war dem Maler, wenigstens was die Gestaltung des Langhausgewölbes angeht, prinzipiell dieselbe Aufgabe gestellt. In einem Tonnengewölbe war ein flacher Gemäldespiegel auszuzeichnen, der sich auf einen darüber entfalteten Heiligenhimmel auftut. Troger greift in der „Anbetung des Lammes durch die 24 Ältesten“ auf einen bereits wenige Jahre zuvor in der Jesuitenkirche von Györ in Ungarn erprobten, auf bolognesischen Vorbildern basierenden Typus zurück.

Das Problem bestand im überzeugenden Ausgleich zwischen einer scheinbar flachen Decke und deren tatsächlicher Wölbung. Der Anschluss an den Triumphbogen vor dem Altarraum und an die Stichkappen stellt sich dabei als besonders kritisch heraus. Trogers Lösung sieht vor, dass die Konsolen an den Enden der Decke höher greifen als jene, die die Langseiten der Bildöffnung stützen, und der Niveauunterschied, respektive die Wölbung, in der Zusammenschau auch gar nicht geleugnet wird.

Ausschnitt aus dem Deckenfresko „Glorie des heiligen Stephanus“ in der Pfarrkirche Anras. Foto: Niederwieser

In seiner „Glorie des heiligen Stephanus“ reduziert Knoller das Troger‘sche Schema, indem er die doppelten Wandvorlagen und auch den fingierten Stuck, den „stucco finto“, vereinfacht, vor allem aber auf die Passformen, die in Brixen wie eine Art Kranzgesims die Rahmengrenzen nachzeichnen, verzichtet. Stattdessen sattelt er den sehr seichten und illusionistisch vergrößerten Stichkappen eine Erhöhung auf, die er von der Westwand bis zum Triumphbogen geradlinig durchzieht. Das hat zur Folge, dass die Decke die Körperhaftigkeit eines tektonischen Bauteiles einbüßt und das zentrale Gemälde nicht mehr als Öffnung, sondern als Applikation auf einem geglätteten Träger erscheint. Unterstellt man Knoller die Kenntnis des Brixner Freskos, muss man auch die zu treffende Entscheidung bedenken: Er konnte beabsichtigt haben, sein Vorbild zu imitieren oder auch zu überbieten.

Wie der Malereitraktat Andrea Pozzos versichert, war die Projektion eines perspektivisch korrekt gezeichneten Risses von einem vorher festzulegenden Augenpunkt auf einen gekrümmten Schirm technisch kein unlösbares Problem.

Wie überträgt man einen Entwurf korrekt auf ein Gewölbe? Schlag nach bei Andrea Pozzo. Repro: Rudolf Ingruber

Der Maler sollte unter dem Gewölbe einen aus Spagat oder Bindfaden geknüpften Raster anbringen und diesen mittels einer am Betrachterstandort aufgestellten Lichtquelle an die Decke projizieren. Wo das Gerüst das Gewölbe verdeckt oder sich dort aufgrund der großen Distanz nur mehr undeutliche Schatten abzeichnen, sollte ein Bindfaden den Lichtstrahl ersetzen. Troger, der mit den Anleitungen bestens vertraut war, wird diese auch seinen Schülern vermittelt haben. Trotzdem ist nicht ganz auszuschließen, dass einige von Knollers „Fehlern“ bei der Übertragung seines Entwurfes auf das Gewölbe und damit ohne Absicht passiert sind. Die grundlegenden Unterschiede zu Brixen sind damit aber noch nicht einmal angedeutet.

Hier die Gegenüberstellung der Deckenfresken in Anras und Brixen. Links die „Glorie des heiligen Stephanus“ von Martin Knoller (Foto: Niederwieser), in der Mitte Trogers „Anbetung des Lammes“ in Brixen. Nach der Restaurierung durch Albrecht Steiner von Felsburg Ende des 19. Jahrhunderts war die gemalte Architektur Trogers als Rahmen des Freskos verschwunden. Montage: Rudolf Ingruber

Wird Trogers Architekturmalerei, indem ihre Glieder sich nach einer Abfolge auf der mittleren Längsachse gelegener Fluchtpunkte richten, in der Bewegung vom Eingang bis zum Altarraum erfahrbar, so bindet Knoller seinen Betrachter an einen knapp vor der Orgelempore befindlichen Ort. Dort geraten ihm aber auch die kritischen Zonen, an denen der Augenbetrug aufgedeckt wird, in das Blickfeld und lassen ihn Bild und architektonischen Schein als voneinander verschiedene Qualitäten erleben. Aus diesem Aspekt ist es zweitrangig, dass auch die seitlichen Ausbuchtungen des Rahmens den Kontakt mit der Architektur verlieren und die Deutung des Bildes als illusionistische Öffnung in den Himmelsbereich untergraben. In idealer Verlängerung formen sie eine Ellipse, die das Figurenensemble umfängt und das Muster zu seiner Gruppierung vorzeichnet.

Verteilt auf die in den Kirchenraum sich senkenden Wolken überschreitet das Personal des untersten Registers diese imaginäre Grenze und verringert damit seine Distanz zum Betrachter, dessen Standort sich am anderen Ende der geneigten Bildebene befindet. Dreh- und Angelpunkt ist der hl. Stephanus in der Bildmitte, den Knoller bedeutungsperspektivisch so nahe wie möglich an den Betrachter heranzuziehen bestrebt ist. Leitmotiv der Troger‘schen Komposition ist hingegen ein Wolkenband, das die dicht gedrängte Heiligenschar serpentinenförmig bis an die Spitze eines Berges heranführt, auf der das Lamm zugleich die optische Mitte und, räumlich gesprochen, die höchste mit den Augen erreichbare Stelle des Bildes einnimmt.

Diese doppeldeutige Kompositionsweise Trogers erhellt auch aus einem Vergleich der „Auffindung des Grabes“ des Anraser Titelheiligen über der Orgelempore mit dem Deckenfresko im südlichen Querhaus des Brixner Doms, dem Knoller die Grundstruktur und wesentliche Motive entlehnt. In beiden Gemälden war durch die Protagonisten die Zäsur eines von Bäumen flankierten, die Nebenfiguren an die Bildränder drängenden Weges zu überbrücken.

Der heilige Cassian von Imola stürzt die Statue des Pluto auf Säben. Entwurf für das Deckenfresko im Brixener Dom von Paul Troger, um 1751/1753. Foto: Open Content/Galerie Belvedere, Wien.
„Auffindung des Grabes“ von Martin Knoller in der Pfarrkirche Anras. Foto. Niederwieser

Virtuos nutzt Troger die Ambivalenz projektiver Linien in ihrer Raum-, Richtungs- und Flächenbezüglichkeit, die den pyramidalen Bildaufbau und die Handlung auf ihren Höhepunkt zuspitzen: Gleichviel, ob die ausholende, vom Bischof Kassian befohlene Bewegung der Knechte ihr Ziel letztendlich erreicht – alles drängt auf den Moment, der im Sturz des Götzenbildes auch den Zusammenbruch der steil aufwärts gerichteten Bilddynamik herbeiführen muss. Hingegen bildet den Höhepunkt in Knollers Fresko genau genommen ein Loch, auf das sich die horizontal angelegten Bewegungen und Gesten und die gefährlich gebückte Haltung des links Knieenden beziehen.

Die Abweichungen sind selbstverständlich zur Hauptsache dem Thema geschuldet, und man muss eine ganz ähnliche Begründung auch für die Komposition der „Glorie des hl. Stephanus“ geltend machen. Knollers Anliegen war dort, dem Kirchenbesucher eine durch die Gruppierung gelockerte Hierarchie himmlischer Fürsprecher möglichst präsent vor Augen zu stellen, die man einzeln und im Kollektiv anrufen konnte, und die speziell in der Gegend von Anras höchste Verehrung genossen.

Es ist daher möglich, anhand der Patrozinien und der Zusammenstellungen an den Altären umliegender Sakralbauten Heilige zu identifizieren. So lassen sich aus der Gruppe der Bischöfe, in Analogie zum linken Seitenaltar der Filial- und Wallfahrtskirche in Asch, die Heiligen Nikolaus, Kassian und Martin benennen. Bei der Dreiergruppe im Register darunter dürfte es sich um Johannes v. Nepomuk und Franz Xaver handeln, denen sich der in Anras fast überall verehrte hl. Antonius v. Padua zugesellt. Wurde Trogers Deckenbild auch als „Brixner Heiligenhimmel“ bezeichnet, so möchte man Knollers Version den Titel eines „Anraser Heiligenhimmels“ verleihen.

Die Zurücknahme der barocken Illusion zugunsten der Präzisierung der Einzelform und der Eindeutigkeit in der Mitteilung sowie das Bekenntnis zur Bildhaftigkeit der Gesamtkonzeption kennzeichnen Knollers Auseinandersetzung mit seinem Lehrer. Dass er mit seiner Auffassung ebenso den Geschmack und die Frömmigkeit der Provinz bedient hat, leuchtet auch dann ein, wenn man nicht bereit ist, der Überlieferung Glauben zu schenken, nach der die Gemeinde Anras, die „einen besondern Werth darin setzte, das erste Fresko-Gemälde dieses vaterländischen Künstlers zu besitzen“, sein späteres Angebot einer unentgeltlichen Neufassung ausschlug.


In unserer Serie künstlerischer Meisterwerke schärft der Kunsthistoriker Rudolf Ingruber – Dolomitenstadt-Leser und -Leserinnen kennen ihn auch als launigen Randnotizen-Schreiber – den Blick auf insgesamt 20 bedeutende Kunstwerke im öffentlichen Raum Osttirols. Denn schließlich gilt: Man sieht nur, was man weiß. Als Fotograf begleitet Helmut Niederwieser diese Kunstdokumentation von dolomitenstadt.at.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

3 Postings

Kiew
vor 2 Jahren

Ein herzliches Dank für den informativen Beitrag und gleichzeitig alles Gute und Gesundheit zum Neuen Jahr. Zur Anmerkung: Vor Jahren befand sich auf er rechten Bankreihe ein Schild, dass zu bestimmten Zeiten nur Männern der Zutritt dieser Bänke erlaubt seien!

 
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    r.ingruber
    vor 2 Jahren

    Ich wünsche auch Ihnen alles Gute und Gesundheit zum Neuen Jahr! Auch Herrn Bahner Bernd und allen, die das Posting hier lesen. Herzlichen Dank für die wohlwollende Treue!

     
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Bahner Bernd
vor 2 Jahren

Hoffentlich erscheinen Ingrubers Beiträge zur Kunstgeschichte Osttirols noch einmal zusammengefasst in Buchform. Unglaublich interessant !

 
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