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Gemalte Dramaturgie eines Freiheitskampfes

Anders als Franz v. Defregger lässt Albin Egger-Lienz seine Recken direkt ins Publikum stürmen. 

„Als die Stürme der Kunsterneuerung in den 80er Jahren das Münchener Kunstleben aufrüttelten und das erstemal das Wort ‚Sezession‘ ertönte, hielt ich mich an ihn wie an einen sicheren Hort“, schrieb Albin Egger-Lienz in einer 1915 verfassten Würdigung Franz v. Defreggers zu dessen 80. Geburtstag. „Daß ich mich nie zu seinem Nachahmer degradierte, hat seinen Grund im wahrhaften Respekt vor seiner Meisterschaft. Er lehrte mich dafür durch seine Bilder (denn ich war auch nie sein Akademieschüler) den Weg erkennen, und wie es hoch und stolz sei, sein Eigener zu sein und dass das nur der kann, der sich selbst treu bleibt …“

Als Egger-Lienz Ende 1897 die Arbeit an seinem monumentalen Historienbild „Das Kreuz“ aufnahm, befand sich der Münchner Kunstbetrieb noch immer in einem grundstürzenden Umbruch, den nicht zuletzt die fünf Jahre zuvor gegründete „Münchener Secession“ anfeuerte. Der Blick einer progressiven Gruppe von Künstlern war u. a. auf Frankreich gerichtet, wo bereits seit den 1830er Jahren die „Schule von Barbizon“ dem Malen vor dem Motiv gegenüber der Inszenierung im Atelier und der vor den Augen des Künstlers sich abspielenden Gegenwart gegenüber dem historischen Ereignis den Vorzug gab. Auf der rein technischen Seite entsprach diesen Anliegen der unmittelbare, offene Pinselstrich, in dem wesentliche Charakteristika des Impressionismus schon angelegt waren.

"Das Kreuz" von Albin Egger-Lienz. Dieses Bild, eine Wiederholung der Erstfassung, entstand 1902 und hängt im Museum der Stadt Lienz auf Schloss Bruck. Es ist eine Dauerleihgabe des Wien Museums. Foto: Vaverka

Gegen die Angst vor Überfremdung hatte die konservative Mehrheit in der „Münchner Künstlergenossenschaft“ ein marktbeherrschendes Bollwerk errichtet. Gemälde wie „Das Kreuz“ oder sein Vorläufer, das „Ave Maria nach der Schlacht am Bergisel“, mit dem Egger-Lienz im Jahr zuvor im Münchner Glaspalast reüssiert hatte und anlässlich seiner Ausstellung in Wien sogar dem Kaiser vorgestellt worden war, waren nicht primär zum Verkauf vorgesehen, sondern als Referenz, mit der sich ein aufstrebender Künstler für eine erfolgreiche Teilnahme am Kunstmarkt empfahl. Künstlerische Interpretationen der Tiroler Freiheitskämpfe setzten schon bald nach den Ereignissen des Jahres 1809 ein. Kein anderer jedoch hatte den Stoff ähnlich popularisiert wie Franz v. Defregger im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Die bis zum heutigen Tag wohl am meisten beachtete Bildschöpfung zum Thema ist das 1874 gemalte „Letzte Aufgebot“, das auch Egger-Lienz an die Spitze „einer Reihe an sich trefflicher Arbeiten Defreggers zum Neunerjahr“ setzte, allerdings nur, um aus vierzigjährigem Abstand an seinem Beispiel die Eigenart des Älteren ausführlich zu kritisieren: „Defregger stellte das Malerische in die zweite Linie, wollte vor allem das Tiroler Volk, wie er es sah und wähnte, erzählend darstellen“, und „die Lebendigkeit seiner Erzählkunst stellte sein weniger gepflegtes malerisches Können in den Schatten, man sah anstatt malerischer Probleme und Flecken lebendige Menschen. Vielleicht zu lebendig, in ihren Handlungen zu weit über den Bildrahmen fortschreitend, vielleicht wäre dies die Aufgabe des Dichters?“

„Das Letzte Aufgebot“ von Franz von Defregger entstand 1874 und befindet sich in der Sammlung des Belvedere in Wien, Foto: Johannes Stoll

In der Tat bedienten sich etliche Bilder Defreggers nicht nur literarischer Quellen, sie inspirierten auch Schriftsteller wie Peter Rosegger zu Geschichten, die dieser in seinem „Defreggeralbum“ 1879 gesammelt herausgab. Ist jedoch Defreggers „Letztes Aufgebot“, der Aufbruch eines überschaubaren Häufleins schlecht bewaffneter Veteranen in die letzte Schlacht am Bergisel, keinem schriftlichen Zeugnis eindeutig zuordenbar, so hat Egger Lienz für sein „Kreuz“ die entsprechende Stelle in Joseph Rapps über achthundert Seiten starken Buch „Tirol im Jahre 1809“ in einem Brief an seine Verlobte von Anfang an klargestellt:

„Hauger kam mit einem Theile seiner Kompagnie und mit mehreren andern versprengten Schützen zu einem Bauernhause, wo eine Menge stürmer um ein an der Mauer hängendes Crucifix knieten und beteten. Mit jugendlichem Feuer rief er sie auf, mit ihm der Klause zu Hilfe zu eilen, und da sie, wie es schien, mißmuthig, nicht gleich aufstanden, riß er das Kreuz von der Mauer, hob es hoch empor und beschwor alle Anwesenden, für die heilige Religion und die Rettung des Vaterlandes noch den letzten Versuch zu wagen. Dieß wirkte. Hauger rannte mit dem Kreuze voran durch einen schmalen Steig der Klause zu und alle Bewaffnete folgten ihm mit Begeisterung. Ein imposanter Kreuzzug!“

Bei der Aufgabe, die Egger sich stellte, nämlich die rasch aufeinanderfolgenden Handlungssequenzen des Textes in die Gleichzeitigkeit eines riesigen Leinwandgemäldes zu transkribieren, kam ihm nicht zuletzt die Choreografie des „Letzten Aufgebotes“ zu Hilfe. Auch wenn er, wie in der Fachliteratur manchmal behauptet, es auf die Überwindung der Defregger’schen Auffassung des Historienbildes angelegt hätte, sind die Parallelen deutlich erkennbar. Hier wie dort bewegt sich die Schar der Streiter entlang einer rechts hinten beginnenden Kurve nach vorn, wo sich eine Vierergruppe von der nachdrängenden Mannschaft abhebt. Egger-Lienz verwickelt sie aber nicht wie sein Vorbild in die wechselseitige Abhängigkeit eines Gesprächs, vielmehr ist jedem einzelnen von ihnen seine eigene (Bild-)Funktion zugewiesen.

Franz v. Defregger rückt seine Figurengruppe in das Bildinnere, distanziert sie dadurch vom Betrachter und bringt auch Publikum in Stellung.
Albin Eggers Vierergruppe wirkt entschlossener als jene auf dem Bild von Defregger. Sie dringt über die ästhetische Grenze in den Betrachterraum ein.

Georg Hauger hatte sich im Juli 1809 als gerade einmal Siebzehnjähriger dem Freicorps unter Baron Ferdinand von Luxheim angeschlossen und wird im Zusammenhang mit den Kampfhandlungen bei der Lienzer Klause am 8. August von Joseph Rapp als „Freiburger Akademiker“ bezeichnet. Aber nicht er selbst trägt in Eggers Gemälde das Kreuz, sondern zwei rüstige Männer, und er ist mehr durch den gezückten Säbel als durch seine Gesichtszüge als die historische Hauptperson zu identifizieren. Ihr Vorbild fand der Maler in einem deutlich älteren Sarntheiner Bauern, der „diese Arbeit des Modellstehens zu übernehmen“ bereit war. Auch für Egger-Lienz war zu diesem Zeitpunkt nicht die Geschichte, sondern die – zumindest dem Anschein nach – unmittelbar stattfindende Gegenwart bindend.

Zieht man durch den Punkt, an dem der gedanklich verlängerte senkrechte Balken des Kreuzes die Erde berührt, eine parallel zum unteren Bildrand verlaufende Linie, erkennt man, dass Eggers Vierergruppe diese nicht nur entschlossener als in der Analogie des Defreggerbildes überschreitet: Im nächsten Moment wird sie auch über die ästhetische Grenze in den Betrachterraum dringen. Der wild dreinblickende Mann an der Spitze des Zuges hat dies bereits getan. Wie zur Bestätigung der Irritation, die man schon beim ersten flüchtigen Blick auf das Gemälde empfindet, muss man jetzt fürchten, vom weit ausholenden Schwung seiner Sense beide Unterschenkel durchtrennt zu bekommen.

Defregger hingegen rückt die Figurengruppe weiter in das Bildinnere und distanziert sie dadurch vom Betrachter. Ihre perspektivische Verkleinerung verschafft der Umgebung mehr Raum, den er für genaue topografische Angaben nutzt, um gleichsam den Weg des Trupps zu beschreiben, vor allem aber um ein innerbildliches Publikum in Stellung zu bringen, das die auf die Mienen der Helden gemalten Affekte voll Sorge, verhaltener Trauer oder auch nur mit Neugier begleitet. „Man könnte versucht sein“, schreibt ein zeitgenössischer Interpret bald nach Vollendung des Werkes, „mehr Mannigfaltigkeit, mehr bewegtes Leben, rührende Abschiedsszenen, wechselnden Ausdruck von Jammer, Kampfbegeisterung, Tröstung u. dgl. im Bilde zu wünschen; dann aber verkennt man den Charakter der Situation, den Charakter des Volkes.

Egger-Lienz füllt den Bildraum im wahrsten Sinne des Wortes bis an den oberen Rand, wo sich die Figurenmasse in den mit breitem Pinsel gestrichenen Hüten und Federn verdichtet. „Der Feind sah die lange Reihe der Streiter und stutzte über diese Verstärkung, die er für größer hielt, als sie war“, heißt es darüber in Rapps Bericht. Während Defregger seine Akteure noch im Moment ihres Aufbruchs zum Gruppenbildnis versammelt und ihre fein abgestuften Gemütsregungen von den umstehenden Zuschauern beantworten lässt, richtet Egger-Lienz sämtliche Emotionen nach außen an den Betrachter, der sich denn auch aus der stürmenden Menge von zahlreichen Augenpaaren fixiert sieht.


In unserer Serie künstlerischer Meisterwerke schärft der Kunsthistoriker Rudolf Ingruber – Dolomitenstadt-Leser und -Leserinnen kennen ihn auch als launigen Randnotizen-Schreiber – den Blick auf insgesamt 20 bedeutende Kunstwerke im öffentlichen Raum Osttirols. 

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

2 Postings

c.haplin
vor 2 Jahren

Chapeau Rudi! Ein echtes Meisterwerk ist dieser Beitrag. Das erinnert ja schon beinahe an Tatortarbeit. Ich hoffe, dass sich aktuelle und ehemalige Polizisten daran erfreuen!

 
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    Herr_Ethiker
    vor 2 Jahren

    Nehmen die inzwischen die Rolle der Freiheitskämpfer ein? Und ist das Polizeirevier in der Lienzer Klause?

     
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