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Der Cerro Torre. Was für ein Berg! Alle Fotos: Marlen & Ferdi

Der Cerro Torre. Was für ein Berg! Alle Fotos: Marlen & Ferdi

Ein Riese aus Granit in den patagonischen Anden

Wir reisen durch Patagonien auf den Spuren von Toni Egger und erleben unvergessliche Momente des Staunens.

Wer bereits unser Videointerview aus Chile gesehen hat, wird sich vielleicht wundern, warum wir einen Zeitsprung zurück machen. Doch manchmal dauert es viele Wochen, bis wir Zeit zum Schreiben und zur Bildauswahl finden, ganz zu schweigen von einer funktionierenden Internet-Verbindung. Wir schließen nun also nahtlos an die „Weihnachtsgeschichte“ an.


Am vorletzten Tag des Jahres kommen wir in EL Calafate, Argentinien, an und landen mangels brauchbarer Campingplätze in einer Airbnb-Unterkunft. Nach der kargen Kost der letzten Tage im Torres del Paine Nationalpark und in der argentinischen Pampa gönnen wir uns in einem netten Restaurant ein üppiges verspätetes Weihnachtsessen. Calafate ist eine Stadt ohne Sehenswürdigkeiten und ohne Charme und dennoch von Tourist:innen überlaufen. Sie dient einzig als Ausgangspunkt für einen Tagesausflug zum Perito Moreno Gletscher.

Wir buchen keine Bustour sondern halten früh morgens den Daumen raus und schaffen es sogar noch zum ersten Ausflugsboot. Es fährt ziemlich nah an die 70 Meter hohe und auf unserer Seite des Sees über zwei Kilometer breite Abbruchkante des Gletschers heran und manövriert zwischen abgebrochenen Eisblöcken durchs Wasser. Die größte Eismasse der Erde außerhalb der Polregionen liegt vor uns.

Der Perito Moreno Gletscher ist Teil des "Campo de Hielo Sur", des Südlichen Patagonischen Eisfeldes. Immer wieder ertönt ein dumpfes Krachen, wenn ein Teil des Eises vom Gletscher abbricht und in den See stürzt. Alles schimmert bläulich und weiß und es fällt uns schwer, die gigantische Breite des Gletschers und die Dimension der Eiswand vor uns zu begreifen. Die bizarren Eisformationen sind wunderschön. Nach der Bootstour spazieren wir auf den gegenüberliegenden Hügel und genießen das Gletscherpanorama. Erst jetzt beim Blick von oben auf das winzige Ausflugsboot vor der Abbruchkante bekommen wir eine Vorstellung von der Größe des Perito Moreno.

Abends treffen wir die drei jungen Männer, mit denen wir zum Gletscher gefahren sind, wieder. Wir wollen gemeinsam Silvester feiern. Seltsamerweise haben die allermeisten Bars und Lokale geschlossen. Nach langer Suche finden wir doch noch einen freien Tisch. Das Essen überzeugt leider nicht. Nachdem um Mitternacht kurz gemeinsam angestoßen wurde, leert sich das Restaurant schnell. Feuerwerke sind verboten, die Straßen ausgestorben, aus vereinzelten Häusern dringen Partygeräusche. Irgendwie passt die Stimmung zu diesem Ort. Gespannt darauf, welche Abenteuer und Begegnungen das neue Jahr mit sich bringen wird, radeln wir zurück in unsere Unterkunft.

Wir feiern Silvester mit Zufallsbekannten in Calafate.

Nach einem weiteren Pausentag brechen wir Richtung El Chaltén auf. Viele Kilometer durch Argentiniens Steppe liegen vor uns. Mit Wind ist zu rechnen. Auf unserer vorherigen Reise in den Osten haben wir so gut wie nie auf den Wetterbericht geschaut. Bei nur zwei, drei Regentagen innerhalb von neun Monaten war das auch nicht nötig. Hier in Patagonien hält man ebenfalls wenig von Wetterprognosen, da sich das Wetter sowieso ständig und sehr schnell ändert.

Die Windvorhersagen interessieren uns dafür umso mehr, schließlich gibt es Tage mit besonders starkem und manche mit weniger Wind. Aber so richtig zutreffend waren die Prognosen dann auch wieder nicht. Immerhin, in weniger als einer Stunde radeln wir die ersten 30 Kilometer. Asphaltierte Straße und Rückenwind machen's möglich. Dann zweigen wir nach Norden ab, von jetzt an Seitenwind. Als Schlafplatz dient uns ein halbverfallenes Haus, hinter dessen Mauerresten wir brauchbaren Windschutz finden. In Anbetracht der vielen umherliegenden Guanakogebeine und unzähligen weiteren Tierknochen nicht der schönste Platz, aber in der windumtosten Einöde ist jede alte Mauer willkommen.

In der Einöde ist jede alte Mauer als Windschutz willkommen. Man beachte die Guanako-Knochen im Vordergrund!
Guanakos gehören zur Familie der Kamele und sind die wild lebende Stammform des domestizierten Lamas.

Die fade Landschaft vertreiben wir uns mit dem Hören von Podcasts, was auch das allgegenwärtige Rauschen des Windes etwas unterdrückt. Ein weiteres Mal machen wir Halt bei einer Straßenmeisterei und füllen unsere Wasserflaschen auf. Zum Schlafen ist es noch zu früh, aber wir können im Aufenthaltsraum unsere Mittagspause verbringen und mit dem diensthabenden Arbeiter plaudern. Wir erfahren, dass die Straße in den letzten Tagen wegen des starken Windes für Lkw und Busse gesperrt war. Er wirft hier nicht nur Radfahrer:innen um!

Heute nächtigen wir im "Pink House". Ein leerstehendes, rosa gestrichenes Haus, das schon vielen, vielen Radreisenden als schützende Unterkunft gedient hat. Es ist erstaunlich sauber und einladend, von den angekündigten Ratten und anderem Getier fehlt jede Spur. An den Wänden haben sich in den letzten zehn Jahren unzählige "Gäste" verewigt. Wir entdecken sogar einige bekannte Namen und kritzeln uns selbst auf ein kleines Stückchen freie Fläche. In der Einöde und bei dem herausfordernden Klima ist es besonders wichtig, schützende Schlafplätze zu finden. Die unendlichen Zäune entlang der Straße erschweren die Suche zusätzlich.

Das „Pink House“ hat schon vielen Radreisenden als schützende Unterkunft gedient. Auf der Leine baumelt unsere Wäsche.
Die Wände erzählen, wer hier vorbeikam. Wir verewigen uns natürlich auch.

So erweist sich die App "iOverlander" als äußerst hilfreich. Reisende können allerlei nützliche Informationen teilen, insbesondere zu Übernachtungsmöglichkeiten. Der Süden Argentiniens und Chiles ist umfassend dokumentiert, das Reisen wird fast zu einfach. Es gibt nichts Neues mehr zu entdecken, hier in der Pampa ist jeder mögliche Schlafplatz erfasst. Andererseits ist man dann schon auch froh zu wissen, dass auf den nächsten 80 Kilometern mit Gegenwind kein sturmgeschützter Zeltplatz zu finden ist und man vielleicht schon mittags an einem windstillen Plätzchen verweilt und sich bis zum nächsten Morgen ausruht. Unser Pink House ist ein wahrer Luxus. So stößt kurze Zeit später ein schottisches Pärchen zu uns und wir verbringen einen netten Abend gemeinsam. Wie immer haben wir uns gegenseitig viele Reisegeschichten zu erzählen.

Wieder ein Tag mit heftigem Wind, wie könnte es anders sein. Wir passieren La Leona, ein bekanntes Restaurant und der einzige Anlaufpunkt für Tourist:innen auf den 200 Kilometern zwischen El Calafate und El Chaltén. Nach der Mittagspause muss ich ein gutes Stück schieben, da mich der Seitenwind, der über den See daherfegt, sonst vom Rad bläst. Aber die letzten fünf Kilometer "fliegen" wir mit Rückenwind bis zu einem Unterstand an einer Straßenkreuzung, der uns heute Nacht als Schlafplatz dient. Andere Reisende hatten ihn schon mit großer Begeisterung angekündigt.

Hübsche Schutzhütte mit tollem Ausblick auf dem Weg nach El Chaltén. Noch sind wir alleine, aber ...
... eine Stunde später schaut das anders aus. Wir nächtigen zu siebt in der kleinen Hütte.

Durch große Glasfenster hat man einen tollen Rundumblick, die Sonne liefert Strom zum Handy laden und die Satellitenantenne neben der Hütte sorgt für Wifi. Auch hier bleiben wir nicht lange alleine und schlafen am Ende sogar zu siebt in dem kleinen Häuschen. Wiedermal ein perfekter Ort, nur der Toilettengang erweist sich als etwas schwierig. Schließlich gibt es in der Umgebung nichts, wo man sich verstecken könnte und noch dazu bleiben viele Autos genau hier stehen, um das WLAN zu nutzen. Internet in dieser Gegend ist rar.

Ein neuer Morgen, ein altes Problem: Gegenwind. Sobald wir uns vor die Tür begeben, haut es uns fast um. Kein gutes Omen für die heute anstehenden 90 Kilometer gegen die Windrichtung. Uns scheint es sinnlos, dagegen anzukämpfen und so hoffen wir darauf, dass uns ein Auto mitnimmt. Viel los ist hier nicht. Hauptsächlich Touristenbusse und ein paar Motorräder. Aber irgendwann bleibt dann doch ein Auto stehen, ein Pick-up der mit 4 Personen eigentlich schon gut besetzt ist. Für Argentinier kein Problem. Ein bisschen zusammenrücken, dann haben alle Platz und die Räder passen perfekt auf die Ladefläche. Die Familie ist aus Buenos Aires und gerade in der Gegend auf Urlaub. Wir unterhalten uns sehr nett und freuen uns, bereits nach einer Stunde El Chaltén zu erreichen.

El Chaltén hat kaum 2000 Einwohner:innen. Spektakulär ist nicht der Ort, sondern die Berge - wenn man sie sieht.

Der kleine Ort hat weniger als 2000 Einwohner:innen und ist eigentlich recht unspektakulär, würden sich hinter der Wolkendecke nicht die wohl berühmtesten Gipfel Patagoniens verbergen. Namen wie Fitz Roy, Cerro Torre oder Torre Egger lassen so manches Bergsteiger:innenherz höher schlagen. Sehnsüchtig schauen wir jeden Morgen erneut Richtung Westen und hoffen zumindest eine Spitze der sagenumwobenen Berge zu erhaschen. Doch außer einem kurzen Blick auf das Fitz Roy Massiv ist leider nichts zu erkennen. Die hiesigen Wetterbedingungen machen die Berge in jeder Hinsicht zu einer außergewöhnlichen Herausforderung. El Chaltén dient als Basislager für Abenteuersportler:innen aus der ganzen Welt, die sich beim Klettern, Bergsteigen oder Paddeln austoben. Dezember, Jänner ist Hochsaison. Die Campingplätze im Ort sind voll und natürlich treffen wir auch auf andere Radreisende. 

In einer Bäckerei lernen wir Natalie und Frederik aus der Schweiz kennen, die Richtung Süden radeln. Sie haben sich den Huemul Circuit vorgenommen, eine 4-Tages Wanderung in den umliegenden Bergen. Das klingt für uns wesentlich verlockender, als die überlaufenen Pfade zu Füßen des Cerro Torre und Fitz Roy. Die Wetterprognose verspricht stabiles Sommerwetter und so beschließen auch wir, den Cerro Huemul zu umrunden. Sogleich klappern wir die Outdoorläden im Ort ab, um uns die fehlende Wanderausrüstung auszuborgen: Zwei große Rucksäcke, zwei paar Trekkingstöcke, einen Klettergurt und ein paar Meter Seil. Nur einen Gurt? Wir kommen gleich dazu. 

Bevor wir uns für ein paar Tage in die Berge begeben, wollen wir ein ganz besonderes Bauwerk aufsuchen: Die 1997 vom Osttiroler Eduard Müller erbaute Toni-Egger-Gedenkkapelle. Eine kleine typisch österreichische Kapelle als Andenken an Toni Egger und viele andere am Cerro Torre verunglückte Bergsteiger:innen. Die Kapelle ist leider verschlossen, also fragen wir im örtlichen Heimatmuseum nach einer Besichtigungsmöglichkeit. Soweit wir die Mitarbeiterinnen verstehen, gibt es irgendein Problem mit der Tür, die sich wegen des starken Windes nicht mehr aufschließen lässt. Als wir ihnen zu verstehen geben, dass es uns ein großes Anliegen ist und wir aus Eggers und Müllers Heimat kommen, begleiten sie uns zur Kapelle und schließen die Türe problemlos auf.

Die Holzbänke, der Altar, die Erinnerungstafel mit den Namen der Verstorbenen und vieles mehr hat Lienzer Ursprung. Die Kapelle könnte genauso gut bei uns daheim in den Bergen stehen. Die Materialien wurden aufwändig mittels Container von Österreich nach Argentinien verschifft. Alles kommt mir vertraut vor, aber es ist ein schräges Gefühl, dass ich mich hier mitten in Patagonien befinde. Immer wenn wir an solchen geschichtsträchtigen Orten stehen, frage ich mich, wie es wohl gewesen sein muss, damals, im Jahr 1959, von Österreich bis hierher zu reisen, wo 1985 El Chaltén gegründet wurde, um einen der schwierigsten Berge der Welt zu besteigen. Auch unsere Anreise war zeitweise ein bisschen abenteuerlich, aber die großen Abenteuer von früher können wir heutzutage nur mehr schwer nachvollziehen und kaum mehr erleben.

Ein kleines patagonisches Bergabenteuer wartet auch auf uns. Wir sind zwar mittlerweile daran gewöhnt, für mehrere Tage Essen einzukaufen, doch wenn das ganze Gewicht am Rücken getragen werden muss und der Platz im Rucksack beschränkt ist, stellt uns das vor neue Herausforderungen. Unsere Ausrüstung ist nicht gerade fürs Wandern optimiert. Edelstahlgeschirr, Benzinkocher samt großer 1 Liter Benzinflasche, dicke Winterschlafsäcke, ein geräumiges Drei-Personen-Zelt. Alles super für eine lange Radreise, aber nicht für einen Rucksack auf einer Mehrtageswanderung. Dieser ist schnell voll. In den zweiten kommen Essen und warme Kleidung.

Gegen Mittag geht es los, aus dem Ort hinaus, an der Rangerstation vorbei und kontinuierlich leicht bergauf. Der Himmel ist noch immer wolkenverhangen, der Cerro Torre hält sich versteckt. Das ungewohnte Gewicht der Rucksäcke zieht uns nach unten, außerdem sind unsere Muskeln nicht fürs Wandern trainiert. Zum Glück ist die erste Etappe wenig anspruchsvoll und wir können uns Zeit lassen. Zu Fuß unterwegs zu sein hat viele Vorteile und "taugt uns voll". Gerade in unschwierigem Gelände kann man immer wieder in die Gegend blicken, kann Insekten am Boden entdecken, Blätter im Vorbeigehen angreifen, nebeneinander gehen und plaudern, alles Dinge, die beim Radfahren eher schwierig sind.

Beim Wandern fällt es mir viel leichter, immer wieder stehen zu bleiben und die Berge in der Ferne zu betrachten. Für mich ist das Gehen eine noch intensivere Erfahrung mit der Natur, man ist noch näher dran. Am Fahrrad bleibe ich nicht so oft stehen, vor allem wenn es gerade super gut rollt und ich den Flow nicht unterbrechen will. Andererseits taugt es mir beim Radeln so richtig, wenn ich schnell bin und ganz eins mit meinem Fahrrad. Wie ein gut laufendes Getriebe funktionieren wir dann perfekt als Einheit. Es sind eben zwei sehr unterschiedliche Fortbewegungsarten und beide üben einen besonderen Reiz auf uns aus.

Barfuß geht es durch einen eiskalten Gletscherbach und nach insgesamt 17 Kilometern erreichen wir unser erstes Lager in einem Waldstück nahe eines kleinen Gletschersees. Einige Zelte sind schon aufgebaut und auch wir machen uns gleich auf die Suche nach einem geeigneten, flachen Platz. Nachdem unser mobiles Zuhause eingerichtet ist, beeilen wir uns die letzten Sonnenstrahlen für eine schnelle Katzenwäsche im Gletscherfluss zu nutzen. Auch wenn es weit entfernt von einer richtigen Dusche ist, fühlen wir uns erstaunlich frisch und sauber. Aus dem Fluss holen wir Trinkwasser und kochen Abendessen, Polenta mit Bohnen. Zusätzlich haben wir für jeden Tag eine Instantsuppe mit dabei. Normalerweise verzichten wir gänzlich auf Fertiggerichte, aber solche Suppen sind super praktisch, klein und leicht und im Nu zubereitet. 

Tag zwei beginnt mit einem Müsli mit Banane. Zeltabbau und auf geht's. Kurz gibt es Unklarheiten über den Wegverlauf, aber dank GPS am Handy finden wir schnell zum richtigen Pfad zurück. Bei dem kaum markierten und manchmal schwer zu erkennenden Weg werden wir noch öfter die Satelliten zu Hilfe ziehen. Eine halbe Stunde nach Aufbruch staut es sich vor einer Tirolesa. So werden hier die Seilrutschen genannt, mit denen man Mangels Brücken die Flüsse überqueren kann. Zwei davon gibt es am Huemul-Circuit und sie sind der Grund warum wir einen Klettergurt mitschleppen. Vor uns sind noch rund zehn andere Wagemutige an der Reihe.

Einhängen, rüberziehen, Rucksack nachholen, Gurt für die nächste Überfuhr zurückschicken. Das braucht Zeit. Vor allem wenn man ungeübt ist. Die Alternative, durch den eiskalten Bach zu waten, finden wir wenig attraktiv und so warten wir geduldig bis wir an der Reihe sind. Eine Stunde später hängen wir uns ins Seil und ziehen uns über die Schlucht. Ein kurzes, aber spaßiges Vergnügen. Nachdem es auch unsere Rucksäcke auf die andere Seite geschafft haben, machen wir uns an den Aufstieg zum Paso de Viento. Am Gletscher entlang geht es steil aufwärts, über loses Geröll der Moräne bis zu einem großen Felsen wo Frederik und Natalie gerade jausnen. Die Aussicht ist grandios, der Platz gemütlich und sonnig, also setzen wir uns gleich dazu und packen unser Mittagessen aus.

Woran man Radreisende unter Wandernden erkennt? Wir sind immer diejenigen mit der besten Jause und die, die am meisten Proviant mitschleppen. Beim Essen gibt es für uns keine Kompromisse, da nehmen wir lieber ein paar Socken weniger mit und haben dafür Platz für frisches Gemüse. Heute schmeckt es uns besonders gut: ein dunkler Laib Brot - etwas ganz Seltenes in fernen Ländern -, Gurke, Karotte, Avocado und Wurst fürn Ferdi. Neidische Blicke der Fertigessen-Wanderer bleiben nicht aus. Die richtige Verpflegung ist bei anstrengenden Unternehmungen besonders wichtig und sorgt für gute Laune. Mit neuer Energie steigen wir die letzten Höhenmeter zum Paso de Viento, zum windigen Pass, empor. Wir haben riesiges Glück mit dem Wetter. Es ist nicht nur wolkenlos, auch der Wind zeigt sich von seiner sanften Seite. Der Pass macht heute seinem Namen keine Ehre.

Wir wissen nicht so recht wo wir hinschauen sollen. Der Kopf schweift nach rechts, nach links, wieder nach rechts. Eine unfassbar große Eismasse erstreckt sich bis zum Horizont, die Dimensionen übersteigen die der europäischen Gletscher um ein zigfaches. Wir stehen am Rande des südlichen Patagonischen Eisfeldes, des Campo de Hielo sur. Es ist gigantisch! Ich spüre die Euphorie in mir emporsteigen. Einmal tief durchatmen, die Augen schließen, die Augen wieder öffnen, den faszinierenden Anblick in mich aufsaugen. Das ist Patagonien!

Wir sind endlich an dem Ort, von dem wir schon seit Jahren träumen. Ein bewegender Moment. Ich habe Tränen in den Augen. Doch trotz des außergewöhnlich guten Wetters ist es frisch am Pass und so machen wir uns nach ein paar Erinnerungsfotos an den Abstieg. Immer mit Blick auf das Eisfeld, nur eine riesige Moräne trennt uns davon. Ein Stück weiter unten ist es wieder herrlich warm und als wir an unserem heutigen Lagerplatz ankommen, gönnen wir uns ein kurzes Bad in der kleinen Lagune nebenan. Wir sind die einzigen, die sich hineinwagen. Die anderen vermuten wohl eiskaltes Gletscherwasser, aber es ist seicht und relativ warm. Spaghetti mit Sojabolognese, Kapern und Hefeflocken sind unser Gourmet-Bergsteigeressen für den Abend. Danach erklimmen wir nochmals einen Hügel, um den Sonnenuntergang mit Blick auf das Patagonische Eisfeld zu genießen. Fantastisch!

Die Nacht war komplett windstill, aber relativ kalt. Auch am frühen Morgen ist es sehr frisch und so nutzen wir die kleine Biwakhütte nebenan zum Frühstücken. An einer Leine hängen allerlei Proviantsäcke. Uns wurde geraten keinerlei Essbares über Nacht im Zelt oder Rucksack aufzubewahren. In dieser Gegend leben nämlich besonders hungrige Mäuse, die schon so manches Loch in Zeltböden und Rucksäcke gefressen haben, um an all die Köstlichkeiten zu gelangen. Pech für unsere Zeltnachbarin, die einen Müsliriegel im Rucksackdeckel übersehen hat.

Am heutigen dritten Tag führt uns der Weg hinauf zum Huemul Pass. Mein rechtes Knie fängt an zu schmerzen, aber beim gemeinsamen Wandern mit Natalie und Frederik habe ich genug Ablenkung und wir kommen gut voran. Zumindest bis es abwärts geht. Von dem extrem steilen Abstieg hatten wir bereits gehört. Sandiger Untergrund geradeaus hinunter. Mehr eine Rutsche als ein Weg. Ganze 600 Höhenmeter gilt es zu überwinden. Das ist zuviel für mein schmerzendes Knie. Ich weiß nicht mehr wie ich steigen soll, versuche jedes Mal anders aufzutreten um die Schmerzen zu lindern. Vergebens. Ich schlucke eine Schmerztablette und zur Aufmunterung die letzten Stücke unserer Schokolade.

Die Landschaft um uns hat sich wieder stark verändert. Wir schlängeln uns durch eine Art Latschenwald und blicken auf den Viedma See unter uns. Andenkondore mit bis zu zwei Metern Flügelspannweite gleiten über uns hinweg. Bin ich mit meinem humpelnden Fuß etwa schon zu ihrer Beute auserkoren? Bald darauf ist Schluss, ich schaffe es so nicht mehr weiter. Ferdi hat mir schon zu Beginn des Abstieges das meiste Gewicht abgenommen, jetzt nimmt er mir den kompletten Rucksack ab. Was für eine Erleichterung. Es ist zwar immer noch extrem schmerzhaft, aber irgendwie schaffe ich es mit Tränen in den Augen bis ganz nach unten, wo das dritte Camp liegt.

Schon während des Abstieges haben wir beobachtet, wie immer wieder ein kleines Löschflugzeug über dem Lagerplatz kreist. Das laute Brummen des Generators einer Wasserpumpe ist zu hören, Feuerwehrleute sind an der Arbeit. Lagerfeuer sind strengstens verboten, aber nicht alle halten sich daran. Vor drei Tagen ist im Camp ein Feuer ausgebrochen und hat sich zu einem Waldbrand ausgebreitet. Die Löscharbeiten dauern noch immer an. Laut Information einer Feuerwehrfrau ist die Situation unter Kontrolle, das Feuer gelöscht, aber sie werden die Nacht vor Ort bleiben um eventuelle Glutnester zu beobachten. Die Hälfte des Camps ist von ihnen blockiert, rundherum ist alles abgebrannt, es riecht nach Rauch und im Vorbeigehen spürt man die erhitzte Erde. Keine guten Voraussetzungen für eine ruhige erholsame Nacht.

Steiler Abstieg ...
... und eine weitere „Tirolesa“

Also beschließen wir weitere vier Kilometer bis zur nächsten Übernachtungsmöglichkeit zu gehen. Zum Glück geht es nur flach dahin und die Schmerztablette wirkt. Wir schlafen direkt am See, außer uns sind nur fünf andere Zelte da. Der Platz ist viel schöner als der vorige, ein zur Renaturierung stillgelegtes Camp. Doch aufgrund des Feuers dürfen wir ausnahmsweise ganz offiziell hier zelten. Die Natur braucht ihre Erholung. In der Hauptsaison starten täglich an die 30 oder mehr Wanderer. Alle schlafen an den vorgesehenen Plätzen und verrichten ihr Geschäft in der unmittelbaren Umgebung. Schon jetzt, zu Beginn der Saison, können wir eine große Verunreinigung feststellen. Das Problem der fehlenden Toilette muss dringend gelöst werden.
 
Kaum zu glauben, aber wieder eine Nacht ohne Wind. Wir beginnen uns schon zu fragen, ob wir immer noch in Patagonien sind. Der Morgen ist herrlich warm, es herrscht Kurze-Hosen-Wetter. Unser Lager direkt am See, die warme Morgensonne, es ist wie im Urlaub. Die letzte Etappe steht an. Zum Aufbruch finde ich am Seeufer eine noch verschlossene Packung Kekse. Was für ein Glück, hatte ich doch gestern in der Not das letzte Stück Schokolade verspeist. Der finale Tag bringt 22 Kilometer, eine weitere Tirolesa, aber sonst wenig Abwechslung. Es geht relativ flach und sehr eintönig dahin. Trotz der vielen Sonnencreme brennen unsere Gesichter. Vereinzelt kreuzen Guanakos unseren Weg. Ein Huemul, der stark bedrohte Andenhirsch, ist uns nicht begegnet.

Die Eintönigkeit bringt mich in einen meditativen Zustand. Schritt für Schritt nähern wir uns El Chaltén, unserem Ausgangspunkt. Heute herrscht klare Sicht, der Gipfel des Fitz Roy taucht plötzlich vor uns auf. Doch was ist das links daneben? Die Spitze einer Felsnadel blickt über dem Bergrücken hervor. Das wird doch nicht wirklich der Cerro Torre sein? Ferdi ist nicht mehr zu bremsen. Jetzt müssen wir uns beeilen. Wir wissen, wie schnell sich das Wetter ändern kann. Voller Euphorie nehmen wir weitere 200 Höhenmeter querfeldein in Kauf. Die Müdigkeit der letzten Tage ist wie weggeblasen, die Eintönigkeit des Hinauswanderns und meine Knieschmerzen vergessen, Ferdi schon über den nächsten Zaun geklettert. Jetzt werden wir ihn doch noch sehen! 

Wie ein perfektes Abschiedsgeschenk unserer 4-Tage Wanderung präsentieren sich die berühmtesten Gipfel Patagoniens von ihrer besten Seite. Wir sind ganz allein hier oben, setzen uns nebeneinander auf eine Steinplatte und fixieren den Blick auf die Berge vor uns. Der Himmel ist frei, die Sicht klar: Cerro Torre, Fitz Roy, Torre Egger. Links der Cerro Huemul, den wir in den letzten Tagen umrundet haben. Erschöpft aber glücklich und dankbar für diesen unvergesslichen Moment liegen wir auf den warmen Steinen. Ein Kondor zieht seine Kreise und komplettiert das sagenhafte Panorama. 

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