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Das „ewige Eis“ verschwindet und macht Platz für Pioniere

Wo die Gletscher nackte Flächen hinterlassen, kommen neue Pflanzen gerade erst an.

Kaum zwei Zentimeter groß, sitzt das Pflänzchen eng am Boden. Harald Pauli inspiziert die kleinen fleischigen Blätter ganz genau, zückt die Lupe, notiert dann Ran.glac. (Ranunculus glacialis) auf den Erhebungsbogen: Gletscherhahnenfuß. 

Ohne den kundigen Blick des Biologen ist das Gewächs hier auf 2.900 Metern Seehöhe kaum auszumachen. Denn die charakteristischen weiß-pinken Blüten lässt dieses Exemplar vermissen. „Hier an der Untergrenze unseres Forschungsgebiets ist er sehr spärlich. Weiter oben wird der Gletscherhahnenfuß größer und voller im Wuchs. Die schönsten Exemplare finden wir in Gipfelnähe, erklärt der Wiener Forschungsleiter. Je zwei seiner Kolleginnen und Kollegen teilen sich den Blick auf eine 1x1-Meter große Erhebungsfläche. Penibel nehmen sie jede Pflanzenspezies, die zwischen Fels und Erdreich hervorlugt, auf. 

Die Hochgebirge sind ein Schatz für die Wissenschaft. Was können sie uns über den Zustand der Ökosysteme sagen? Illustration: Nina Oppenheimer

Die Wissenschaftler vom Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) sind für vier Wochen am Schrankogel in den Stubaier Alpen, um die Veränderungen der Botanik zu dokumentieren. Dort, wo Wanderer höchstens den Gipfel vor Augen haben, geht es ihnen um das, was in unmittelbarer Bodennähe passiert. Es ist das älteste Forschungsgebiet von GLORIA, einem weltumspannenden Monitoring zur Untersuchung der ökologischen Folgen des Klimawandels im Hochgebirge. 1994 begann Harald Pauli hier mit den Kartierungen und Temperaturmessungen, seither hat sich einiges getan. „Auf diesen alpinen Rasen sind an manchen Stellen schon gut 20 Pflanzenarten angekommen.“ Die Artenvielfalt auf 3.000 Metern Seehöhe sei in den letzten zwanzig Jahren förmlich explodiert, zumindest an den Ost- und Südlagen des Bergs. 

Die Artenvielfalt auf 3.000 Metern Seehöhe ist in den letzten zwanzig Jahren förmlich explodiert.

Harald Pauli

Die Temperaturen sind gestiegen, die Flächen viele Monate im Jahr eis- und schneefrei. Waren es einst nur Spezialisten, die in dieser rauen Umgebung überleben konnten, kommen nun immer neue Arten hinzu. „Die Kälteliebhaber finden wir mittlerweile schon knapp unter dem Gipfel auf 3.497 Metern. Für diese Pionierpflanzen wird es schön langsam eng, sie werden verdrängt durch jene, die von unten nachrücken, so Pauli. Das sei das Schicksal des Gletscherhahnenfußes oder des Einblütigen Hornkrauts. „Irgendwann ist der Gipfel der Ausweichmöglichkeiten erreicht. Sie sterben aus.“

Man könnte Pauli und seine Mitstreiter aus Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich leicht als verrückte Pflanzenliebhaber abtun. Selbst bei massivem Schneefall harren sie Anfang August im Camp auf 2.600 Metern Seehöhe aus, um ihre Erhebungen fortzusetzen. Doch was am Schrankogel passiert, ist relevant für die gesamten Ökosysteme in unseren Breiten und sollte uns alle angehen. „Auf Google-Earth werden Sie sehen, dass die meisten freien Flächen in Europa Agrarland oder bewirtschafteter Wald sind, dazwischen noch einige kleine Flecken Naturschutzgebiete. Die Gebirge sind die letzten Räume, wo Arten noch Zuflucht finden können, sagt Pauli. Und die Ökosystemdienstleistungen seien schließlich unerlässlich für unser Überleben auf der Erde. „Die Artenvielfalt ist unsere Lebensversicherung, wenn sich das Klima ändert.“

Poa laxa: Das schlaffe Rispengras ist das höchst steigende Gras in den Alpen. Es ist nicht ganz so ausdauernd wie die Polsterpflanzen, kommt aber überall dorthin, wo keine dichten Rasen sind. Im Verbund mit anderen fühlt es sich besonders am Gletschervorfeld wohl, wo es in Schutt-und Felsspaltengesellschaften beobachtet werden kann. Illustrationen: Nina Oppenheimer
Androsace alpina: Der Alpen-Mannsschild gehört zur Familie der Primelgewächse und bildet lockere Rasen oder flache Polster. Seine pinken Blüten, die er von Juni bis August ausbreitet, sind kurz gestielt und überragen kaum das Blattwerk. Er ist ein absoluter Spezialist: Am Piz Linard entdeckte man auf 3.400 Metern Seehöhe noch reife Früchte. Er mag sehr feuchte, lange mit Schnee bedeckte Standorte. Am Matterhorn erreicht er eine unglaubliche Höhenlage von 4.200 Metern.

Die Daten der Biologinnen und Biologen legen nahe: Schon ein Anstieg der globalen mittleren Jahrestemperatur von 2 Grad Celsius kann zu einem drastischen Verlust der Habitate der Hochgebirgspflanzen führen. Die Pflanzen treiben früher aus, blühen rascher. Spezialisten wie der Gletscherhahnenfuß können ihre Atmung und den Stoffwechsel nur bedingt an die wärmer werdenden Temperaturen anpassen. Andere, wie das berühmte Edelweiß, sind da stresstoleranter. Auch sie halten mit der Geschwindigkeit der Klimaerwärmung aber kaum mit. Kritisch wird es, wenn die Fichten und Lärchen höher kommen, sich die Baumgrenze verschiebt. „Die Hochgebirgsflora ist sonnenverwöhnt“, erklärt es Pauli. Klein im Wuchs sind die Pflanzen perfektioniert, sich eng an den Boden zu kuscheln, um die volle Wärme und Sonnenstrahlung aufzutanken. Teils hat es in Bodennähe 20 Grad mehr als in der Luft. Schatten durch Sträucher und Bäume wäre tödlich. 

Bei unserer Wanderung sind nicht nur lateinische Pflanzenbezeichnungen omnipräsent, auch die sichtbaren Zeichen des Gletscherrückgangs. Kaum etwas ist noch übrig vom Bockkogelferner, der auf der anderen Talseite sitzt. „Wir werden uns an dieses Bild gewöhnen müssen“, sagt Pauli. Dann kracht es laut, viel Fels stürzt zu Tal. Auch das bringt der Klimawandel: Tauenden Permafrost, der viele Tausend Jahre wie Kitt für die Felsmassen in den Alpen wirkte. Jetzt bröckeln sie. 

Die sensiblen Hochgebirgspflanzen zeigen lange keine Reaktion, das Aussterben geschieht zeitverzögert.

Brigitta Erschbamer

30 Kilometer weiter, tief im Ötztal, am Gletschervorfeld des Rotmoosferners hat die Innsbrucker Geobotanikerin Brigitta Erschbamer ihr Forschungsgebiet. Jahrzehntelang sah sie den Pflanzen dort beim Ankommen zu, mittlerweile ist Erschbamer pensioniert. Ihr Augenmerk liegt aber noch immer auf jenen Flächen, die das Eis seit Ende der Kleinen Eiszeit freigegeben hat. „Hier kann die Entstehung einer Pflanzengemeinschaft von Null an beobachtet werden, beginnend vom Pionierstadium bis zu den Schlussgesellschaften, für die Jahrhunderte notwendig sind. Wir finden auf Gletschervorfeldern ein exzellentes Freiluft-Labor, das wir in dieser Weise nirgendwo haben“, schwärmt die Biologin im Gespräch mit meiner Kollegin Lisa Prantl. Eine Erkenntnis von Erschbamer: Wenn es früher mindestens fünf Jahre dauerte, bis erste Pflanzen erschienen sind, sieht man heut schon nach einem Jahr Eisfreiheit kleine Keimlinge. 

Doch auch am Gletschervorfeld kämpfen die Pflanzen. „Auf den sandigen Böden fehlt es in heißen Sommern an Feuchtigkeit. Wir sehen, dass sich auf den Flächen, die seit etwa 50 Jahren eisfrei sind, ein Stillstand der Entwicklung der Pflanzengemeinschaft einstellt“, berichtet Brigitta Erschbamer. Bis zum Maximum der Pflanzenarten brauche es normalerweise 40 bis 60 Jahre – ohne Wasser sterben jedoch alle Keimlinge wieder ab. „Eine Mitarbeiterin unserer Arbeitsgruppe hat festgestellt, dass bereits am Gletschervorfeld Hitzeschäden bei Keimlingen und Jungpflanzen auftreten können. Das ist fatal.“

Saxifraga bryoides. Der Moossteinbrech tritt als einer der ersten Pioniere auf eisfreien Flächen auf. Seine Samen sind so winzig wie ein Staubkorn und können daher besonders leicht vom Wind mitgetragen werden. Zum Keimen braucht er aber dringend Wasser. Der Moossteinbrech wächst in flachen, dichten Polstern, seine Blüten kommen im Juli und August zum Vorschein. Wie schon der Name verrät, liebt er Silikatfelsen und Schutt. Sein besonderer Trick: In seinen Polstern speichert er Feuchtigkeit und Nährstoffe und bietet damit anderen „Polstergästen“ Heimat.
Ranunculus glacialis. Der Gletscherhahnenfuß ist überaus kälteresistent. Er wurde schon auf 4.270 Metern Seehöhe gesichtet. Erkennbar an den krautig-fleischigen Blättern und weißen bis dunkelroten Blüten, wächst er auf den kleinsten Schuttflächen und in Felsspalten mit nur wenig Humus. Mit langen Blütenstielen macht er bestäubende Insekten auch in höchsten Höhen auf sich aufmerksam. Auf alpinen Rasen hingegen ist er wenig konkurrenzfähig. Warme Temperaturen beeinträchtigen seinen Stoffwechsel und greifen die Reserven an.

Während sich die Gletscher sichtbar verabschieden, bekommt man die Veränderungen der Pflanzenwelt schwieriger mit. Deshalb gehen die Forschenden alle zehn Jahre, im Gletschervorfeld sogar jährlich, an ihre Standorte, zählen Häufigkeit der Arten und untersuchen den Zustand der Vegetation. Die Daten, die in diesen Wochen im Ötztal gesammelt werden, werden erst in einigen Jahren ausgewertet sein. Sie liefern Grundlagen für renommierte Klimaberichte wie den IPCC und ermöglichen der Wissenschaft überhaupt erst, Prognosen anzustellen. „Diese sensiblen Hochgebirgspflanzen zeigen lange keine Reaktion auf den Klimawandel, das Aussterben geschieht zeitverzögert, aber es wird zahlreiche Alpenpflanzen treffen“, warnt Erschbamer. 

Beim Abstieg über die beweideten Almen vorbei an der bewirtschafteten Alpenvereinshütte wird deutlich, dass dieser Raum nicht nur unter den Pflanzenpopulationen heiß umkämpft ist. Der Landesenergieversorger TIWAG baggert gerade an den Zuleitungen zum neuen, erweiterten Speicher des Sellrain-Silz-Kraftwerks. Sechs Hochgebirgsbäche werden dafür abgeleitet und einmal quer durch die Stubaier Alpen geführt. Gegen das Projekt wehrten sich die Lokalbevölkerung und die alpinen Vereine (der 20er berichtete), es wurde dennoch bewilligt. Man sieht die Wunden der Bagger ohne ein fachkundiges Auge, die Botanik jedoch leidet still. Sie braucht Fürsprecher wie Pauli und Erschbamer. „Die Biodiversitätsfrage geht in der Klimawandeldiskussion oft unter. Wir sehen neue Begehrlichkeiten von Energieerzeugern, die auf fossilfreie Energien umstellen wollen. Das führt zu Konflikten im Hochgebirge. Dabei sollten der Erhalt der Biodiversität und Klimawandelanpassung doch in dieselbe Richtung gehen, sagt Pauli noch bei unserem Gespräch im GLORIA-Camp.

Wir sehen neue Begehrlichkeiten von Energieerzeugern, die auf fossilfreie Energien umstellen wollen. Das führt zu Konflikten im Hochgebirge.


Harald Pauli

Brigitta Erschbamer unterstreicht, wie wichtig der generelle Schutz der Tiroler Gletscher samt Vorfeldern wäre, auch der bereits erschlossenen. Sie ist damit nicht allein. Auch der Alpenverein setzt sich für eine umfassendere Unterschutzstellung jener Flächen ein, die als Vorfelder und Moränen nicht mehr unmittelbar zum Eis gehören. Beim geplanten Skigebietszusammenschluss vom Pitztaler und Ötztaler Gletscherskigebiet habe man sich eingehend mit dem Wert der Urböden auseinandergesetzt, erklärt Liliana Dagostin, Leiterin der Abteilung Naturschutz im Alpenverein. „Der sogenannte Syrosem („rohe Erde“) ist eigentlich noch kein Boden, zumindest würden ihn Bodenkundler nicht als solchen bewerten. Dennoch haben diese sensiblen Gebiete noch die ganze Zukunft vor sich. Wir sollten sehr sorgsam mit ihnen umgehen.“

Gegründet hat das GLORIA-Netzwerk übrigens der Ökologe und Naturschützer Georg Grabherr, er starb im letzten Jahr. Wer sich interessiert, kann ein eindrückliches Video auf YouTube ansehen: Darin erklärt Grabherr, wie die Abkömmlinge jener Pflanzen, die zu Zeiten Ötzis vor 5.000 Jahren keimten, heute ums Überleben kämpfen. Nicht nur macht ihnen der Klimawandel zu schaffen, sondern auch die vielen Baustellen im Hochgebirge. „Die Krumm-Segge, botanisch ein Sauergras, hat eine ganz besondere Überlebensstrategie“, so Grabherr. „Sie wächst nur einen Millimeter pro Jahr.“ Gehe man beim Bau von Skipisten und Energieerschließungen ohne Bedacht ans Werk, vernichte man hunderte Jahre Pflanzengeschichte – mit nur einem Wimpernschlag.


Im Original erscheint dieser Artikel in der Septemberausgabe der Innsbrucker Straßenzeitung 20er. Dolomitenstadt.at sorgt als Partnermedium für die digitale Verbreitung und bietet zu diesem Thema auch ein vertiefendes Podcast-Gespräch mit Geobotanik-Professorin Brigitta Erschbamer an. Diese redaktionelle Arbeit wird unterstützt durch ein Journalismus-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Serie wird fortgesetzt .

Theresa Girardi ist Redakteurin bei der Tiroler Straßenzeitung 20er.

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