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„Dann gab es einen Rundblick auf irgendwas“

Eine Nahtoderfahrung in Osttirols Kirchen? Künstlerisch betrachtet nicht ausgeschlossen!

„Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“ Das sagte ein Mann, der „gerecht und fromm“ in Jerusalem auf die Rettung Israels wartete, und dem vom Heiligen Geist offenbart worden war, er werde den Tod nicht schauen, ehe er den Messias des Herrn gesehen habe. Er war im Tempel der hl. Familie begegnet, die dort, vierzig Tage nach der Geburt Jesu, das vom Gesetz vorgeschriebene Reinigungsopfer darbrachte. Und er wusste in diesem Augenblick nicht nur, wovon er sprach, sondern auch, wofür er gelebt hatte.

Der nach seinen lateinischen Anfangsworten „Nunc dimittis“ genannte „Lobgesang Simeons“ war seit dem Mittelalter fester Bestandteil des Stundenbuches und wurde zunächst von den Mönchen zur Komplet vor dem Schlafengehen gebetet bzw. gesungen. 1524 diente er Martin Luther als Grundlage für das von ihm verfasste Kirchenlied „Mit Fried und Freud ich fahr dahin“, das wegen seiner hoffnungsvollen Einwilligung in das Sterben bald nicht nur im Gottesdienst, sondern auch in Begräbniszeremonien, sowohl in evangelischen als auch in katholischen Gemeinden, Verwendung fand. In Johann Sebastian Bachs Choralkantate, BWV 125, zum Fest Maria Reinigung – auch Maria Lichtmess – am 2. Februar 1725 zum ersten Mal aufgeführt, fand das Lied seine wohl bedeutendste musikalische Fassung.

1759 erhielt Joseph Adam Ritter von Mölk den Auftrag, die gotische Pfarrkirche von Sillian zu modernisieren. Dabei malte er u. a. auch eine Scheinkuppel als Architekturkulisse für die „Darbringung Jesu im Tempel“ oder auch „Darstellung des Herrn“. Die biblische Historie ist in einen horizontalen und einen vertikalen Erzählstrang gegliedert. Entlang der gerundeten unteren Bildkante werden die Repräsentanten all derer, „die auf die Erlösung Jerusalems warteten“ von der Prophetin Hanna auf das göttliche Kind hingewiesen, das Simeon in den Armen hält, während rechts davon ein Levit die Opfergaben – „zwei Turteltauben oder zwei junge Tauben“ – aus Josefs Händen entgegennimmt.

Eine Scheinkuppel als Architekturkulisse für die „Darbringung Jesu im Tempel“. Joseph Adam Ritter von Mölk malte sie in der gotischen Pfarrkirche von Sillian in Osttirol. Foto: Wikicommons

Die beiden Achsen kreuzen sich in der Mitte vor dem durch den halb geöffneten Vorhang und die Bundeslade als Allerheiligstes ausgewiesenen Annex, sind jedoch durch die Lichtregie voneinander deutlich geschieden. Während die horizontal geschilderte Handlung von den Fenstern des Kuppeltambours beleuchtet wird, ist die vertikale Vision der drei Hauptpersonen von einem aus der Kuppellaterne strömenden Licht erfasst. Auf die Akzentuierung des restlichen Bildpersonals übt es keinerlei Einfluss, ja es scheint von diesem nicht einmal wahrgenommen zu werden, so wie es umgekehrt alle Aufmerksamkeit von Simeon, Maria und dem Jesuskind auf sich konzentriert.

Dem Betrachter allerdings wird ein bequemer Gesamtüberblick einerseits dadurch geboten, dass Mölk, der Empfehlung des Trientiner Malers und Architekten Andrea Pozzo gehorchend, den Augpunkt ein ganzes Stück außerhalb der Kuppel gesetzt hat, „damit die, so dieselbe anschauen, sich weniger bemühen dörffen“, sich also bei der Betrachtung der Szene nicht die Hälse verrenken. Andererseits ist es offensichtlich, dass das Schauspiel auch nur durch ein inszenatorisches Wagnis erlebbar wird, denn wäre die Aufführung nicht a priori als Bild ausgewiesen, man müsste befürchten, dass die Protagonisten die geringste Unvorsichtigkeit mit einem Sturz herab in das Kirchenschiff büßen. Der illusionierte Luftraum aber wird von Engeln beansprucht, denen die Schwerkraft bekanntlich kein Hindernis ist.

Eine Illustration aus Andrea Pozzos Architekturtraktat, der genaue Anweisungen enthält, wie man Scheinkuppeln perspektivisch richtig konstruiert.

„Dann gab es einen Rundblick auf irgendwas, aber daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur, dass es fröhlich, warm und für mich überhaupt nicht bedrohlich war. Dann blickte ich mich um, und in dem Moment sah ich, das war für mich – andere sehen einen Tunnel – das war für mich so wie eine Straße aus Milch, so, so milchig, leicht gebogen, und auf der einen Seite kamen Wesen auf mich zu, die schwebten, und da, wo ich stand, da sollte es auf die andere … also praktisch Pendelverkehr. Und dann guckte ich in die Ferne, und da sah ich so einen Lichtpunkt. Als ich das fokussiert hab, haben mich die Wesen um mich herum überhaupt nicht mehr interessiert, und es war, als würde ich vom Staubsauger angezogen. Es wurde immer schneller und „wchcht“ machte es, es wurde immer größer, das Licht. Dann weiß ich nur noch, dass ich in dieses Licht hinein bin und verschmolz mit dem Licht.“

Wären wir nicht informiert, dass uns eine gewisse Frau Christa Feuster auf YouTube hier eine Nahtoderfahrung berichtet, wir würden ihre Ausführungen vermutlich auch als sehr emotionale, subjektiven und objektiven Standpunkt permanent wechselnde Bildbeschreibung zu Mölks „Darbringung Jesu im Tempel“ durchgehen lassen: Der Rundblick und die Interesselosigkeit an dem, was dort vorgeht, die schwebenden Wesen und die unwiderstehliche Anziehung durch das Licht – mit einiger Fantasie sind hier etliche der vom Bericht gelieferten Daten verbildlicht. Wir sollten uns aber vor Augen halten, dass wir es nicht mit einem Nahtoderlebnis, sondern mit der Erinnerung an ein solches zu tun haben.

Eine 1999 veröffentlichte Studie von Michael Schröter-Kunhardt listet und quantifiziert insgesamt 18 Einzelsymptome der Nahtoderfahrung. Wird die von Frau Feuster geschilderte Lichterscheinung von mehr als drei Viertel der 100 Befragten berichtet, sah weniger als die Hälfte den auch von ihr nicht wahrgenommenen Tunnel, und die Begegnung mit mystischen Wesen fand nur noch in knapp einem Drittel der Fälle statt. Mittels Statistik wird hier ein Phantombild der Nahtoderfahrung gezeichnet, das von der Qualität des Einzelerlebnisses absieht, durch die subjektive Erinnerung jedoch auch künstlerisch differenziert und ausgeschmückt werden kann.

Dass zur mentalen Reproduktion der Erfahrung, vor allem aber zu ihrer Mitteilung in den Fundus universal verfügbarer Bilder, Metaphern und Konventionen gegriffen wird, ist verständlich. Wie solche Konventionen kulturgeschichtlich zustande kommen, kann am Beispiel der Rezeption eines Altarbilds mit dem Martyrium des hl. Laurentius veranschaulicht werden, das Tizian um 1550 für die Jesuitenkirche von Venedig geschaffen hat. Das Feuer unter dem Marterinstrument und brennende Fackeln modellieren in dem Gemälde die essentiellen Motive der Handlung aus dem nächtlichen Dunkel. Die nach oben gestreckte Linke des Heiligen und sein Blick aber werden von einem Licht angezogen, das aus einem Loch in der Wolkendecke, ohne dass es auch nur einer der Folterknechte bemerkt, senkrecht auf den geschundenen Körper herabfällt.

Durch das Medium der Druckgrafik gelangte Tizians Komposition auch in die Täler der Alpen. Doch erst die an ganz anderen Themen entwickelte Glorie, das strahlende Zentrum spätbarocker Deckenbemalungen, erlaubte den Übertritt aus dem geschichtlichen Diesseits, dessen Darstellung am Plafond, wie wir bereits an Mölks Scheinkuppel feststellen konnten, immer eine gewagte Angelegenheit war, in ein himmlisches Jenseits durch jenen sich nach oben in die Unendlichkeit öffnenden Raum zu gestalten, der als ein alle Farbe aufsaugendes Licht die naturalistische Buntheit des Irdischen kontrastiert.

Deckenfresko in der Pfarrkirche in Tristach. Auch diese Kuppel ist nur Schein.

In dem 1805 von Christoph Brandstetter für die Pfarrkirche in Tristach gemalten Deckenbild erscheint dem hl. Laurentius neben der Dreifaltigkeit und den obligatorischen Engeln auch Papst Sixtus II., der ihm im Martyrium unmittelbar vorausgegangen war.

Schröter-Kunhardts Statistik beziffert die Wahrscheinlichkeit einer Begegnung mit Verstorbenen und heiligen Figuren während der Nahtoderfahrung mit 27%. Die christliche Ikonographie behält sie – hüben wie drüben – in der Regel den Heiligen vor. Kunstliebhaber können aber jederzeit aus den zahlreichen barocken Himmeln in Osttirols Kirchen einen Aperitif zu sich nehmen.


Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker, Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt und Autor. Während des Lockdowns im Frühjahr hielt uns sein Corona-Tagebuch bei Laune, doch mittlerweile kritzelt Rudi seine Notizen einfach an den Rand der Ereignisse, also dorthin, wo die offizielle Berichterstattung ein Ende hat. Wir präsentieren in unregelmäßigen Abständen „Rudis Randnotiz“.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

Ein Posting

Kiew
vor 3 Jahren

Danke, lieber Rudi, für Deinen tollen Beitrag.

 
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