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Ausschnitt aus einer aktuellen Arbeit von Peter Niedertscheider. Foto: Niederwieser

Ausschnitt aus einer aktuellen Arbeit von Peter Niedertscheider. Foto: Niederwieser

Wo berühren sich Wirklichkeit und Fiktion? 

Peter Niedertscheider stellt derzeit in Innsbruck aus und ist bei der Ausstellung Dolo 13 in Lienz vertreten.

Bis 4. November zeigt die Neue Galerie in Innsbruck Arbeiten von Peter Niedertscheider. Der 1972 in Lienz geborene Künstler ist Steinbildhauer und sein bevorzugter Werkstoff ist Marmor. Das war, trotz seines Studiums bei Alfred Hrdlicka, nicht immer und von vornherein so, erweist sich jedoch als aus der Rückschau auf die beiden vergangenen Schaffensjahrzehnte ablesbares Ergebnis eines konsequent durchgearbeiteten Selbstkonzepts. Und es ist vor dem Hintergrund moderner Erwartungen und Postulate – der Entgrenzung des Kunstbegriffs zum Zwecke sozialer Dienlichkeit und wie immer gearteter pseudowissenschaftlicher oder politischer Statements – eine künstlerische Ansage für sich. Sie legitimiert Niedertscheiders Schaffen durch eine Jahrtausende alte, nahezu ununterbrochene Tradition – wenn auch nicht a priori als Kunst.

Was etwa Platon von seinen bildhauernden Zeitgenossen hielt, wissen wir: Er nannte sie schlichtweg Banausen, Repräsentanten nicht der freien, sondern der mechanischen Künste, Handwerker, denen gerade ihr Beruf gesellschaftlich und politisch relevante Aktivitäten versagte. Daran änderte sich, mit wenigen Ausnahmen, bis zum 16. Jahrhundert unserer Zeitrechnung wenig.

Die Wiederentdeckung und Revision der Antike im Zeitalter der Renaissance veränderte allmählich auch die soziale Stellung der bildenden Künstler, und der „Paragone“, die Konkurrenz zwischen Bildhauern und Malern, gab Anlass, sich mit den spezifischen Eigenschaften ihrer Metiers zu befassen. Das Relief, jenes Bindeglied zwischen zwei- und dreidimensionaler Darstellungsform, stand im Mittelpunkt der Auseinandersetzung um Wirklichkeit und Fiktion. Aufgrund seiner Ambivalenz büßte es den Rang einer eigenständigen Gattung aber in jenem Moment ein, als der von beiden Parteien mit triftigen, bisweilen auch haarsträubenden Argumenten ausgetragene Wettstreit niemanden mehr interessierte.

Das theoretische Patt zwischen Bildhauerei und Malerei aber scheint in der Folge doch vom praktischen Erfolg der letzteren überstimmt – als Michelangelos Hauptwerk gilt keine Skulptur, sondern die Sixtinische Decke – nicht zuletzt deshalb, weil es der Malerei gelungen ist, auch die Imitation des Plastisch-Räumlichen erfolgreich zu integrieren.

Erst um die Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Scheidung perfekt. Die Verbannung des Bildhauerischen aus der Malerei wird jenseits des Atlantiks euphorisch beklatscht, diesseits jedoch mit Unbehagen zur Kenntnis genommen: Während Clement Greenberg die Hoffnung auf eine spezifisch amerikanische Kunst an eine von allen artfremden Zusätzen gereinigte Malerei bindet, diagnostiziert Hans Sedlmayr das Phänomen und dessen Pendant, den Ausstoß des Malerischen aus der Bildhauerei, als Symptome einer europäischen Krise.

Die globale Dimension des Paragone wurde allerdings durch die mangelnde Breitenwirkung infolge der theoretischen Nabelschau dieser klassischen Fächer begrenzt, die schließlich angesichts einer steten und bis heute vollzogenen Approbation neuer Medien und Strategien gelegentlich nur mehr als anachronistischer, den Fragen der Zeit kaum gewachsener Rest anerkannt werden. Oder, positiv formuliert: Wenn die Aufhebung der Grenzen zwischen Schein und Realität und die vollständige Durchdringung von Kunst und Leben, die Auslöschung der ästhetischen Differenz zwischen beiden Bereichen angesagt sind, werden Erzeugnisse, deren angestammtes Geschäft nicht das Leben, sondern allenfalls dessen Abbildung ist, und die vom Künstler nicht nur hin- sondern zuerst einmal hergestellt werden müssen, zu postkompetitiven Nischenprodukten.

Peter Niedertscheider in seinem Atelier. Foto: Wolfgang C. Retter

Die Kunst Peter Niedertscheiders ist nun als Arbeit an einer Theorie zu verstehen, die diesen Zustand zwar nicht für befriedigend hält, aber auch anerkennt, dass es hinter ihn kein Zurück gibt. Seiner Lust auf Entdeckungen und neue Erkenntnisse liegt die Einsicht zugrunde, dass das Neue nicht als das Gegenteil oder gar als der Feind des Alten zu definieren ist, sondern als ein stetig neu zu bestimmendes Verhältnis zu ihm. 

Zwischen künstlerischen Verfahren, die vom natürlichen Gegenstand abstrahieren, um ausschließlich auf sich selbst zu verweisen, und solchen, bei denen das Abbild unter gewissen Voraussetzungen dasselbe Perzept hervorruft wie der natürliche Gegenstand, reiht sich eine Vielzahl möglicher Variationen. Als kunstfähig anerkannt scheint heute mehr, was zum erstgenannten Ende der Skala tendiert, während eine perfekte Imitation, als Garant für höchste Kunstfertigkeit, historisch durch zahlreiche künstlerbiografische Anekdoten belegt ist. Sie alle beschreiben die Täuschung – vorzugsweise des beruflichen Konkurrenten – als ästhetisches Primärerlebnis, die Ent-Täuschung aber als die daraus gewonnene künstlerische Erkenntnis.

Die Diskussion um die Vorzüge von Malerei und Bildhauerei verstand die Bezeichnung „Relief“ ursprünglich nicht als Gattungsbegriff, sondern als Maß für tatsächliches oder nur vorgetäuschtes Volumen und unterteilte es in unterschiedliche Grade: Voll-, Halb- und Flachrelief. Erst die Aufgabe, eine Zahl von Motiven in einem kontinuierlichen und unendlichen, jedoch ebenfalls nur fingierten Raum anzuordnen, der nun selbst zum eigentlichen Bildgegenstand wird, macht diese Abstufung innerhalb eines Bildes erforderlich – es sei denn, man einigt sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, der die räumliche Tiefe, das „Davor“ und „Dahinter“ nicht mehr vom Grad des Reliefs abhängig macht: das „schiacciato“, das verflachte oder „gequetschte“ Relief.

Die zentralperspektivische Bildkonstruktion gab diesen Bemühungen einst die verlässliche Basis. Ob ein Maler oder ein Bildhauer die epochale Entdeckung zum ersten Mal auf ein Kunstwerk angewandt hat, ist allenfalls noch historisch von Interesse. Unser Bildverständnis und unsere visuelle Umwelterfahrung sind mittlerweile nämlich längst überformt durch ein Medium, dem die perspektivischen Regeln wesenhaft sind und daher auch keinerlei Mühe bereiten: die Fotografie, die – auch und gerade ohne Anspruch auf Kunst – das vor unseren Augen sich abspielende Leben fokussiert. Es erscheint mehr als folgerichtig, dass Peter Niedertscheider unter solchen Prämissen ein altes kunsthistorisches Stiefkind aufs Neue legitimiert und dem fotografischen Blick auf die flüchtigsten „Räume“ heutiger Massenkultur – Badestrände, Museen oder die nur scheinbare Privatsphäre moderner Wohnsituationen – im Marmorrelief Würde und Dauer verleiht.

Während die Fotografie das Helldunkel und damit die Plastizität der Objekte entweder elektronisch oder chemisch codiert, hängt sie in einem Relief – und je flacher dieses gearbeitet ist umso mehr – weiter von dessen realer Beleuchtung ab. Wirklichkeit und Fiktion berühren sich an der Oberfläche des Marmors, doch die ästhetische Differenz erlischt mit dem Licht. Das Relief bildet dann keine Objekte mehr ab, es wird selbst zum Objekt in der wirklichen Welt.


Niedertscheider-Ausstellung Neue Galerie Innsbruck
„Dolo 13“ in der Kunstwerkstatt Lienz

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

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