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Kruzifix von Hans Klocker in der Pfarrkirche St. Andrä

Das spätgotische Werk spielt eine wichtige Rolle auf dem Bild „Das Kreuz“ von Egger-Lienz.

In Egger-Lienz‘ Historiengemälde „Das Kreuz“ hat sich dicht hinter dem namensgebenden Motiv eine links und rechts ansteigende Reihe von Köpfen zur Pyramide formiert. Gebannt schauen sie zum Kreuz auf, bekommen jedoch, von der Bildlogik her, nur dessen Rückseite zu sehen. Es scheint, als hätte man, gemäß der literarischen Vorlage, den Gegenstand ihrer Anbetung soeben ihren Blicken entzogen. In der rasanten zeitlichen Abfolge der Bilderzählung wird einzig der Kämpfer, der sich rechts von der Gruppe gelöst hat, wenn sein Schritt groß und seine Bewegung schnell genug ist, das sehen, was das Bild für den Augenblick seinem Publikum vorbehält.

Einzig der Kämpfer, der sich rechts von der Gruppe gelöst hat, kann einen Blick auf den Gekreuzigten werfen. Die anderen sehen nur die Rückseite.

Als Modell diente das spätgotische Kruzifix am rechten Seitenaltar der Lienzer Pfarrkirche St. Andrä. Egger hatte vom Dekan die Erlaubnis erwirkt, es im Freien aufstellen zu dürfen, um den sterbenden Christus in entsprechenden Lichtverhältnissen malerisch überzeugend der Masse höchst lebendiger Menschen einzuverleiben. 

Das Original gilt als Werk des Brixener Bildhauers Hans Klocker, eines Zeitgenossen Simon von Taistens, der um 1500 bemüht war, das Mittelalter von seiner Kunst abzustreifen. In Bezug auf eine Epoche, für die sich die Kunstwissenschaft angewöhnt hat, Zeitabschnitte, Regionen und Individualstile aufgrund ihrer jeweils typischen Konfiguration von Gewandfalten zu unterscheiden, ist die Einordnung von Kruzifixen naturgemäß keine ganz einfache Übung. Es überrascht daher nicht, dass als einer der wenigen Referenzpunkte das Lendentuch einer Christusfigur an Klockers „Traminer Altar“ herhalten musste.

Das spätgotische Kruzifix des Brixener Bildhauers Hans Klocker am rechten Seitenaltar der Lienzer Pfarrkirche St. Andrä. Foto: Helmut Niederwieser

Das Bild des Gekreuzigten war, zumal für die alpenländische Schnitzkunst, eine der seltenen Formgelegenheiten, die den im klassischen Altertum entwickelten Kanon des unbekleideten menschlichen Körpers über das gesamte Mittelalter zumindest in Spuren tradierte. Nach und nach reicherten Bildhauer die hieratischen Anatomien der Romanik mit dem Niederschlag unmittelbarer Naturbeobachtung an, um aus der entrückten Gottheit wiederum einen Menschen und das Mysterium anschaulich und greifbar zu machen. Jedenfalls sicherten sein verhaltener Realismus und seine zeitlose Schönheit Klockers Gekreuzigtem das Überdauern wechselnder Geschicke und künstlerisch-kultureller Epochen in mindestens eben dem Maße wie seine spirituelle Symbolkraft.

Das Kreuz hing ursprünglich, so will es eine in Bild und Schrift an der Südwand des rechten Seitenschiffs erzählte Geschichte, in dem an der Nordseite des Unteren Platzes (heute Hauptplatz) gelegenen Haus des Michael Netlich, wo sich auch die Lienzer Gerichtsstube befand. Als im Jahr 1504 dort ein falscher Eid geschworen wurde, fiel es vor den Streitparteien zu Boden, wobei die Finger der rechten Hand und die Nasenspitze abbrachen. Netlichs Frau brachte es sechs Jahre später in die Pfarrkirche St. Andrä, wo es spätestens 1628 „an diesem Bruderschaftsaltar“ aufgestellt worden sei. Laut einem 1676 verfassten Visitationsprotokoll war der einzige einer Bruderschaft zugewiesene Altar jener der fünfzig Jahre zuvor gegründeten Rosenkranzbruderschaft im linken Seitenschiff.

Ausschnitt aus dem Gemälde mit der „Meineidlegende“, das den zu Boden gestürzten Christus mit den abgebrochenen Fingern zeigt, um 1650. Foto: Helmut Niederwieser

Der Kreuzaltar aber befand in einer Fluchtachse mit dem Hochgrab Michaels von Wolkenstein vor dem Triumphbogen im Hauptschiff. Die verlockende, jedoch allein durch das Datum von 1510 zu stützende Annahme, Grabstätte und Kreuz seien von Anfang an als Ensemble konzipiert worden, lässt sich durch keine näheren Informationen erhärten. Der heutige rechte Seitenaltar wurde 1774 durch die „Bruderschaft von der Todesangst Christi“ gestiftet, einer 1715 gegründeten Laienorganisation, deren vornehmstes Anliegen es war, „für sich und alle einverleibte Brüder und Schwestern ein seliges Sterbstündlein und nach dem Tode eine geschwindere Nachlassung der vielleicht noch übrigen Strafen im Fegfeuer von Gott zu erhalten“. Im Mittelteil des Altars wird der spätgotische Kruzifixus durch das von Johann Paterer, dem bedeutendsten Osttiroler Bildhauer des 18. Jahrhunderts, geschaffene Assistenzpersonal mit barockem Pathos begleitet: links von der Gottesmutter Maria, rechts durch den Apostel Johannes und zu seinen Füßen durch die weinende Maria Magdalena.

Die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas sind sich darüber einig, dass der Gekreuzigte auf Golgota, nicht nur vom himmlischen Vater, sondern auch von der irdischen Mutter verlassen, laut schreiend verstarb. Ausgerechnet das hinsichtlich seiner historischen Glaubwürdigkeit umstrittenste Evangelium nach Johannes korrigiert die Synoptiker an dieser Stelle entscheidend: „Es standen aber bei dem Kreuz“, heißt es da, „seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria, die Frau des Clopas und Maria Magdalena. Da nun Jesus seine Mutter sah und den Jünger dabeistehen, den er liebhatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn! Darnach spricht er zu dem Jünger: Siehe, das ist deine Mutter!“

Kreuzigungsfresko über dem Eingang zur St. Nikolauskirche in Matrei, um 1340. Foto: Niederwieser

Dem frühchristlichen Kirchenschriftsteller Origenes jedenfalls genügte dieses geschichtliche Fundament, um auf ihm die Errichtung eines Gebäudes zu initiieren, das allerdings erst im Spätmittelalter vollendet sein sollte. Es galt, den tieferen Sinn von Jesu Vermächtnis am Kreuz zu erörtern, vor allem aber zu klären, wer mit „dein Sohn“ tatsächlich gemeint war – der Gekreuzigte selbst oder doch der Apostel Johannes? Die Lösung des Konflikts um die Frage, ob einen Gott gegen einen Knecht einzutauschen für Maria nicht ein unzumutbares Geschäft war, hat in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts der Augustinermönch Simon von Cascia an die Gottesmutter selbst adressiert: „O liebe Maria, ich traue es deiner Barmherzigkeit zu, dass du gedenkst, dass dir nicht allein Johannes als Sohn empfohlen ward, sondern auch mich und alle Sünder hat er dir in der Person des Johannes empfohlen.“

Hierin wird man auch die ekklesiologische Aussage der Kreuzigungsbilder an den Außenmauern, neben oder über dem Eingang spätromanischer Osttiroler Kirchen (St. Michael in Lienz, St. Georg in Oberdrum und St. Margarethe in Dölsach, die, um 1300 zu datieren, zu den ältesten erhaltenen Zeugnissen der Malerei im Bezirk zählen) verorten: Auch ohne deren Inneres zu betreten, waren Gläubige angesprochen als Geschwister Jesu und Kinder der gemeinsamen Mutter Maria. Über dem Portal zur St. Nikolauskirche in Matrei (um 1340) sind diese denn auch durch den Titelheiligen und den hl. Georg repräsentiert. In mittelalterlichen Kirchenräumen aber wurden vor den Chorschranken, die den Laien den Zugang zu dem liturgisch ausschließlich vom Klerus bespielten Presbyterium versperrten, Kreuz- oder auch Volksaltäre errichtet.

Albin Egger-Lienz, Die Wallfahrer, 1906, Öl auf textilem Bildträger, 190 x 398 cm, Kunsthalle Mannheim. Foto: Kunsthalle Mannheim

Mit der katholischen Reform fielen im Anschluss an das Konzil von Trient diese Barrieren allmählich, und die Volksaltäre verloren die ihnen zugedachte Funktion. In Lienz aber hatte die Tradition einen längeren Atem, der auch Egger-Lienz noch erreichte, als dieser 1905 auf einer riesigen Leinwand einen ganz neuen Bildgedanken ausformulierte: „Die Wallfahrer“, in denen die Momentaufnahme des historischen Geschehens in ein ausdehnungslos in sich ruhendes Sein überführt ist. Da es sich jedoch immer noch um den Sonderfall eines Ereignisbildes handelte, musste der Maler vor allem die Handlung entschleunigen. „Wie Statuen auf einem Altar“ sollten seine Figuren Aufstellung nehmen.

Klockers Gekreuzigter ist hier, ganz im Gegensatz zur Begebenheit bei der Lienzer Klause, wieder zum Zentrum der Anbetung durch das Bildpersonal geworden, die Begegnung findet auf Augenhöhe und, wie Egger sich ausdrückt, „in senkrechter Harmonie“ zu den Gläubigen statt. Die hölzernen Pfeiler im Vordergrund verhindern ein Überspringen der Handlung in den Raum des Betrachters und sie verteilen die Protagonisten, wie damals liturgisch allgemein üblich, links auf die Frauen- und rechts auf die Männerseite. Sie zeichnen aber auch einen Mittelteil aus, in dem, ganz im Sinne jener spätmittelalterlichen Theologie, Maria und Johannes in profanen Gewändern der Gegenwart keinen Unterschied zwischen den Heiligen und dem Kirchenvolk postulieren.

Rudolf Ingruber ist Kunsthistoriker und Leiter der Lienzer Kunstwerkstatt. Für dolomitenstadt.at verfasst er pointierte „Randnotizen“, präsentiert „Meisterwerke“, porträtiert zeitgenössische Kunstschaffende und kuratiert unsere Online-Kunstsammlung.

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Bei diesem Werk in der Pfarrkirche Dölsach ist die Perspektive des Betrachters entscheidend.

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3 Postings

amRande
vor 2 Jahren

Meines Wissens wurden die abgebrochenen Finger in einem Gebinde an der rechten Hand des Gekreuzigten aufgehängt, wurden aber (angeblich) gestohlen. Oder liege ich hier falsch?

 
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    r.ingruber
    vor 2 Jahren

    Danke für die interessante Frage. Leider kann ich dazu keine Auskunft geben, da ich darüber nichts weiß. Dem Gekreuzigten auf dem Bild mit der "Meineidlegende" sind jedenfalls andere Finger abgebrochen als die, welche dem Original heute noch (oder heute schon wieder?) fehlen. Allerdings steht dort auch, dass "gemelter Netlich" das Kreuz wieder zusammenstellen ließ, bevor seine Frau es auf St. Andrä brachte, und so ist es denkbar, dass die Finger ein zweites Mal abgebrochen und dann eben aufgehängt worden sind. Dass ich sie selber gestohlen habe, nur um die Richtigkeit einer anderen Inschrift an einem benachbarten Bauernhaus zu beweisen, kann ich mit Sicherheit ausschließen.

     
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Kiew
vor 2 Jahren

Vielen Dank für Deinen wieder äusserst informativen Artikel. Für jeden Interessierten bietet die Pfarrkirche St. Andrä eine Fülle von sehenwerten Objekten aus den verschiedensten Epochen der Kultur.

 
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